VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 262

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Schnitzler's Death Schnitzler's Death
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l. österr. behördl. konzessioniertes l. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11 WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43 TELEPHON R-23-0-43
Eatrait du journal: Eatrait du journal:

Adresse : Adresse :
24 00103 KE 1931 24 00103 KE 1931
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Literatur Literatur
Arthur Schnitzler. Arthur Schnitzler.
Während sich Wien rüstete, den bevorstehenden Während sich Wien rüstete, den bevorstehenden
70. Geburtstag Arthur Schnitzlers festlich zu be¬ 70. Geburtstag Arthur Schnitzlers festlich zu be¬
gehen, ist der Dichter, der in seinen an psycholo¬ gehen, ist der Dichter, der in seinen an psycholo¬
gischen und poetischen Reizen überreichen Erzäh¬ gischen und poetischen Reizen überreichen Erzäh¬
lungen und Bühnenstücken Umwelt und Gestalten lungen und Bühnenstücken Umwelt und Gestalten
des lebensfrohen glückhaften Wien der Vorkriegs¬ des lebensfrohen glückhaften Wien der Vorkriegs¬
zeit so treffsicher gekennzeichnet hat, am 21. Okto¬ zeit so treffsicher gekennzeichnet hat, am 21. Okto¬
ber ganz unerwartet gestorben. Schnitzler, der ber ganz unerwartet gestorben. Schnitzler, der
Sohn des berühmten Kehlkopfspezialisten, hatte Sohn des berühmten Kehlkopfspezialisten, hatte
nicht zufällig, sondern aus innerem Beruf den nicht zufällig, sondern aus innerem Beruf den
Weg des Vaters eingeschlagen. Er hatte sich als Weg des Vaters eingeschlagen. Er hatte sich als
medizinischer Schriftsteller schon in jungen Jahren medizinischer Schriftsteller schon in jungen Jahren
betätigt und in Wien die ärztliche Praxis aus¬ betätigt und in Wien die ärztliche Praxis aus¬
geübt. Es ist deshalb kein Zufall, daß sich auch in geübt. Es ist deshalb kein Zufall, daß sich auch in
der Stoffwahl seiner Novellen und Dramen das der Stoffwahl seiner Novellen und Dramen das
Interesse für medizinische Gegenstände nicht ver¬ Interesse für medizinische Gegenstände nicht ver¬
leugnet. Als Arzt geht er auch an die Menschen leugnet. Als Arzt geht er auch an die Menschen
heran mit den ruhigen kühlen Augen des Diagno¬ heran mit den ruhigen kühlen Augen des Diagno¬
stikers. Und was der scharfängige Seelenarzt er¬ stikers. Und was der scharfängige Seelenarzt er¬
kannt, hat der Poet mit feinster Künstlerhand zum kannt, hat der Poet mit feinster Künstlerhand zum
lebensechten Bilde gestaltet. Im Wien der Vor¬ lebensechten Bilde gestaltet. Im Wien der Vor¬
kriegszeit, in dem sich von der Tradition des kriegszeit, in dem sich von der Tradition des
Rokoko her die Kunst der eleganten Plauderei so ins Freie", in dem er aus der gewohnten Sphäre Rokoko her die Kunst der eleganten Plauderei so ins Freie", in dem er aus der gewohnten Sphäre
rein wie nirgends im deutschen Sprachgebiet er= in die Weite menschlicher Symbolik vordringt. rein wie nirgends im deutschen Sprachgebiet er= in die Weite menschlicher Symbolik vordringt.
halten hatte, fand dieser Seelenarzt und Poet ein Aber auch hier sind doch das Beste die geistreichen halten hatte, fand dieser Seelenarzt und Poet ein Aber auch hier sind doch das Beste die geistreichen
Dialoge und die witzigen Wandlungen der Fabel. Dialoge und die witzigen Wandlungen der Fabel.
unbegrenztes Beobachtungsfeld. unbegrenztes Beobachtungsfeld.
Seine Stärke oder, wenn man will, die Größe Seine Stärke oder, wenn man will, die Größe
Mit allen Wurzeln erwächst Schnitzlers Kunst Mit allen Wurzeln erwächst Schnitzlers Kunst
aus dem Milieu der Gesellschaft seiner Vaterstadt. des Dichters zeigt sich am Reinsten in den Mei¬ aus dem Milieu der Gesellschaft seiner Vaterstadt. des Dichters zeigt sich am Reinsten in den Mei¬
sterstücken der Konversation. Deshalb sind seine sterstücken der Konversation. Deshalb sind seine
Nicht die österreichische Welt, sondern die Wiener Nicht die österreichische Welt, sondern die Wiener
Einakter den umfangreichen Dramen ebenso über¬ Einakter den umfangreichen Dramen ebenso über¬
Welt ist sein. Sein „weites Land“ ist das Wiener Welt ist sein. Sein „weites Land“ ist das Wiener
legen wie die Novellen dem Roman. Geht man legen wie die Novellen dem Roman. Geht man
Rathausviertel. Das aber kennt er von innen und Rathausviertel. Das aber kennt er von innen und
außen, die glänzend gepflegte Oberfläche wie das dem Grundwesen der Schnitzlerschen Art nach, so außen, die glänzend gepflegte Oberfläche wie das dem Grundwesen der Schnitzlerschen Art nach, so
schält sich überall als Kernpunkt einer ethischen schält sich überall als Kernpunkt einer ethischen
verborgene Chaos. Schnitzler ist der Wiener der verborgene Chaos. Schnitzler ist der Wiener der
Grundeinstellung die Analyse der „Lüge des Le¬ Grundeinstellung die Analyse der „Lüge des Le¬
genommen, genommen,
inneren Stadt, örtlich und bild inneren Stadt, örtlich und bild
bens“ heraus. Aber Schnitzler nimmt sie mit dem bens“ heraus. Aber Schnitzler nimmt sie mit dem
ünstler, der ünstler, der
ein erfahrener und nachdenklich ein erfahrener und nachdenklich
auch einen scheinbar unergiebigen Stoff restlos be¬ Lächeln der Resignation hin, weil sie ihm ein auch einen scheinbar unergiebigen Stoff restlos be¬ Lächeln der Resignation hin, weil sie ihm ein
untrennbarer Inhalt des Lebens selbst erscheint. untrennbarer Inhalt des Lebens selbst erscheint.
wältigt und ihm seinen inneren Reichtum entlockt, wältigt und ihm seinen inneren Reichtum entlockt,
So wird ihm die Lebenslüge zu einem Grund¬ So wird ihm die Lebenslüge zu einem Grund¬
ein Virtuose in der Ironie. ein Virtuose in der Ironie.
bestandteil des Lebens selbst, vor allem auch der bestandteil des Lebens selbst, vor allem auch der
„Anatol“, das Ergebnis dieser Voraussetzungen, „Anatol“, das Ergebnis dieser Voraussetzungen,
Beziehungen der Geschlechter. Daß auf solchem Beziehungen der Geschlechter. Daß auf solchem
Schnitzlers Anfang und Ausgang, zum Originell¬ Schnitzlers Anfang und Ausgang, zum Originell¬
Boden keine Helden gedeihen, versteht sich von Boden keine Helden gedeihen, versteht sich von
sten, was die neuere Literatur gebracht hat. Die sten, was die neuere Literatur gebracht hat. Die
selbst. Seine Lebenskämpfer sind schließlich betro¬ selbst. Seine Lebenskämpfer sind schließlich betro¬
anderen Dramen sind ihm innig verwandt. Ab¬ anderen Dramen sind ihm innig verwandt. Ab¬
gene Betrüger. So ist Schnitzler der dichterisch gene Betrüger. So ist Schnitzler der dichterisch
seits steht, als Blüte einer mehr elegisch=resignier¬ seits steht, als Blüte einer mehr elegisch=resignier¬
große, vollkommene Ausdruck des uneingestande¬ große, vollkommene Ausdruck des uneingestande¬
ten als satirischen Weltanschauung, die „Liebelei“, ten als satirischen Weltanschauung, die „Liebelei“,
nen Schuldgefühls der bürgerlichen Epoche. nen Schuldgefühls der bürgerlichen Epoche.
ein Lebensbild voll wehmütigen Reizes, voll inti¬ ein Lebensbild voll wehmütigen Reizes, voll inti¬
mer Wahrheit und voll ergreifnden Miterlebens mer Wahrheit und voll ergreifnden Miterlebens
mit denen, die zu schwach zum Leben sind. Das mit denen, die zu schwach zum Leben sind. Das
„süße Mädel“ der Liebelei verkörpert Schnitzleri „süße Mädel“ der Liebelei verkörpert Schnitzleri
naturalistische Epoche. Aber dieser Naturalismus naturalistische Epoche. Aber dieser Naturalismus
wirkt nicht drückend oder quälend, wie jener der wirkt nicht drückend oder quälend, wie jener der
nordischen Naturalisten. Nur einmal hat sich nordischen Naturalisten. Nur einmal hat sich
Schnitzler dazu verstanden, ein politisches Problem Schnitzler dazu verstanden, ein politisches Problem
zu behandeln, und zwar in dem Roman „Der Weg zu behandeln, und zwar in dem Roman „Der Weg