VII, Verschiedenes 13, 1932–1933, Seite 48

13.
Miscellan
S

I. Oesterr.
OBSERVER behördl. konz.
Büro für Zeitungsnachrichten
WIEN, WOLLEILE
Volk. Beobachter, München
9. MRZ. 1933
Wien
„Asien" von H. R. Lenormand.
Deutsche Uraufführung im Burgtheater.
Direktor Hermann Nöbbeling hat eine
ausgesprochene Vorliebe für Kitsch. Wenn er
einmal ein gutes Stück bringt, so trachtet er
darnach, daß wenigstens in der Aufführung
etwas Kitschiges sei. Ein schlechtes Stück aber,
das irgendwie nach Großem und Bedeutendem
aussieht — darin besteht ja meistens der
Kitsch —, das allein scheint so recht nach seinem
Herzen zu sein! Außerdem ist er abhängig von
den Männern und Mächten, die das unerlöste
Österreich derzeit noch beherrschen. Die Männer
sind manchmal auch Frauen, und wenn Frau
Verta Zuckerkandl einen französischen
Schmarrn mangelhaft übersetzt hat, so muß er
in Wien aufgeführt werden.
Lenormands „Asien“ wurde also unvermeid¬
lich. Ist dieses Stück an und für sich schon wert¬
los, so möchte man seine Aufführung im
Burgtheater noch als einen besonders
groben Taktfehler bezeichnen. Direktor Röbbe¬
ling, der mehr in der jüdischen, aber in
der deutschen und in der österreichischen Litera¬
turgeschichte anscheinend so gut wie gar nicht
bewandert ist, selbst er dürfte schließlich einmal
davon gehört haben, daß ein gewisser Grill¬
parzer eine gewisse „Medea“ geschrieben hat,
und daß diese Tragödie, mit Frau Bleibtreu im
Mittelpunkt, bis vor etwa zehn Jahren zu den
glanzvollsten Leistungen des Burgtheaters gehörte.
Lenormand selbst beruft sich allerdings nur auf die
„Medea" des Euripides als sein Vorbild. Von
Grillparzer weiß er nichts oder will er nichts
wissen, denn nach seiner Ankunft in Wien hat
er ausdrücklich erklärt, diese Stadt sei für die
Franzosen die Stadt Arthur Schnitzes übri¬
gens hat auch Corneille den gleichen Stoff be¬
handelt und Cherubini (in Paris) eine Oper
daraus gemacht. Lenormand könnte also in kei¬
nem Falle behaupten, daß er etwas Neues
erfunden habe, und den günstigsten Eindruck
hofft er offenbar dadurch zu erwecken, daß er
sich als Schüler und Fortsetzer des Euripides
bekennt. Nichtsdestoweniger ist die Handlung
seines Stückes genau dieselbe wie bei Grill¬
parzer — nur der Selbstmord der Meden am
Schlusse ist eine äußerliche Zutat. Daß Lenor¬
mands Meden eine indische Prinzessin im heu¬
tigen Asien und sein Jason ein französischer
Forschungsreisender ist, und daß das Wider¬
spiel Asien-Europa hauptsächlich in der Gegen¬
überstellung von barbarischem Aberglauben und
technischem Fortschritt veranschaulicht wird, ist
auch nur etwas äußerliches, das keineswegs mit
einer inneren Umformung, einer wirklichen
„Modernisierung“ des Stoffes verwechselt wer¬
den darf. Lenormand zeigt uns nichts von der
Größe eines alten Kulturvolkes, das bisher von
der modernen Zivilisation verschont geblieben
ist, und ebenso wenig von dem „Dämonischen“,
das den technischen Wundern der Neuzeit eigen
ist. Hier ist alles leer und flach, im Geistigen
wie im Handwerklichen, in den Gesprächen, in
der Charakterzeichnung und in der Szenenfüh¬
rung. Die unverwüstlichen Kräfte des Burg¬
theaters, falsch verwendet und oft geradezu
mißleitet von Röbbeling und seinen Regis¬
seuren, taten brav und redlich das Ihre und
steuerten das schwanke Fahrzeug zwischen La¬
cherlichkeit und Langeweile in den Hafen eines
lauen Achtungserfolges, der hauptsächlich der
Darstellung galt.
M. M.
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I. Oesterr.
BSERVER behördl. konz.
Büro für Zeitungsnachrichten
WIEN, WOLLEILE
Neue Freie Presse, WIEN
Abendblatt
2. APR. 1933
(Maria Delvard in der Urania.) Maria Delvard ist
nach langer Pause zum erstenmal wieder vor das Wiener
Publikum getreten, sie, die einst mit Frank Wedekind, Gumpen¬
berg und anderen Künstlern der Gruppe der „Elf Scharfrichter
als Zwölfte angehörte, mit Schnitzler, Peter Altenberg und Egon
Friedell das Kabarett „Nachtlichst gegründet, sehr interessant in
der „Fledermaus, gewirkt hat und überdies das Verdienst für
sich in Anspruch nehmen darf, die Lieder aus „Des Knaben
Wunderhorn auch in Frankreich bekannt gemacht zu haben.
Wie in Vorkriegstagen steht sie wieder im hochgeschlossenen, lang¬
und engärmeligen schwarzen Kleid schlank und schmal auf dem
Podium. Um die intelligenten, ausdrucksvollen Züge wellt dunkel¬
blondes Haar bis in den Nacken nieder. Marya Delvard, eine
eifrige Folkloristin, hat Archive durchforscht, alte Schriften studiert
und bei den Bauern im Poitou wenig bekannte Volksweisen
gesammelt. Alle ihre Lieder präsentieren sich unretschiert, textlich
und musikalisch genau so, wie das Volk sie singt. Ihren gesang¬
lichen Darbietungen ging eine erläuternde Conférence der
französischen Schriftstellerin Camille Semond voraus, die sehr
anregend und lebendig Landschaft, Bevölkerung, Sitten und
Volksbräuche des französischen Westens malte, mit all seinen
spezifischen Eigenheiten, seinem Aberglauben und seiner vom Wein
gesteigerten Fröhlichkeit. In der ersten Abteilung ihres Pro¬
gramms brachte Marya Delvard Volkslieder aus dem fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert, „Quand tu tenais la caille, „Le
roi a fait battre le tambour, die erschütternde Ballade von
„Jean Renaud, die hecke Satire „La veuve und als Zugabe ein
modernes Matrosenlied. Während der Pause vertauschte die
Künstlerin das traditionelle schwarze Kleid mit einem bunten
Reifrochphantasiekostüm aus der Zeit Louis Philippes und sang,
solcherart die bäuerliche Note leicht betonen, etliche Volkslieder
aus der Vendée. In diesen kleinen gefänglichen Genrebildern
offenbart sich bezaubernd Marya Delvards eigenartig reizvolle
Art. Ein vielsagender Blick, eine flüchtig andeutende Hand¬
bewegung, ein kaum wahrnehmbares Achselzucken, sehr viel
Geschmack, natürliche Würde und delikater Humor — das sind
die Requisiten einer scharmanten Kunst, die man mit Freude in
der bekannten französischen Diseuse wieder begrüßte.