VII, Verschiedenes 13, 1932–1933, Seite 51

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Miscellaneous
„OBSERVE.
I. österr. behördl. konzessionierte,
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt a
Wr. Allgemeine Zer¬
8 APR. 1933
vom
NERIE

Kulturzentrum Wien
wird, keineswegs unbegabten „National¬
Wien ist im Begriffe, eine große geistige
dramas" statt. Im Parkett soll, ent¬
Flüchtlingsstadt zu werden. Das Exil alles
sprechend frack= und ordensbesät, die Stim¬
dessen, was der Hitler=Kaserne Deutschland
mung jedoch einfach eisig gewesen sein. Das
überflüssig, wurmstichig, zersetzend und sitt¬
ist ebenso erfreulich wie logisch. Qualität
lich faul erscheint. Seit Wochen dauert
läßt sich nicht organisieren und herbei¬
dieser Zustrom wirklicher Persönlichkeiten,
agitieren. Qualität auf jedem Gebiet ist
die in solcher Eigenschaft völkisch verfemt
das Endergebnis der Jahrhunderte Ge¬
und unausgesprochen, aber auch unwider¬
sittung, Zucht und Demut persönlichen wie
sprochen verbannt sind. Die Recht= und
kulturellen Empfindens.
Geistlosigkeit ihres augenblicklichen Zu¬
standes hat manche dieser Flüchtlinge so
Es ist also, vorläufig wenigstens,
weit verwirrt, daß sie noch immer an eine
gut wie aus mit der Theater= und Geistes¬
stadt Berlin. Das Schlageter=Drama Hans
mögliche Rückkehr nicht bloß in eine schmäh¬
Johst steht dort als einzige angeblich künst¬
lich geduldete Existenz, sondern in eine ge¬
sicherte und auch moralisch geordnete Wirk¬
lerische Verheißung am Aufbauhorizont, und
Richard Billinger schreibt bereits Gedicht
samkeit glauben. Das ist natürlich eine
im Völkischen Beobachter“. Auch der
fromme oder vielleicht sogar in einigen
Fällen verständlich feige Selbsttäuschung.
„Simplicissimus", läßt auf einer Schlu߬
seite rund um den Grabstein Bismarcks die
Die Dichter, die Publizisten, die Theater¬
korrig kahlen deutschen Sichen wieder in
leute, die auf den gewissen Enthebungs¬
zarten, jungen Trieben ergrünen. An
listen der neudeutschen Antikulturpropa¬
schlotternd gutem, hemmungslos after¬
ganda stehen, werden sich für längere Zeit
aktrobatischem Willen fehlt es gewiß nicht.
eine neue Heimat suchen müssen, was ihnen
Aber es fehlt weiß Gott an Talent, an Ein¬
psychologisch keine Schwierigkeiten bereiten
fällen, an Schwung, es fehlt an dem, was
dürfte, aber auch ein neues Arbeitsfeld¬
jetzt konsequent ausgetrieben, geachtet und
und hier eröffnet sich eine katastrophale, von
zu Schanden geprügelt wird: an Geist.
der Tücke des Schicksals geradezu teuflisch
Wien, wie gesagt, erhält jetzt dafür den
komplizierte Perspektive
Ueberfluß, und zwar leider, leider, einen
Wien hätte jetzt jede Chance auf allen
virklichen Ueberfluß. Man braucht Namen
geistigen Gebieten: in Bälde werden ver¬
nicht erst zu nennen, um darzutun, was alles
mutlich die ersten Schriftsteller Deutsch¬
jetzt hier präsentiert und produziert werden
lands, zumindest die agilsten und aktivsten
Publizisten hier versammelt sein. Jener
Umsturz der Gesetze, der Begriffe und jeg¬
licher Kulturvoraussetzung hat sogar aus
Max Reinhardt jenen simplen Herrn Gold¬
mann gemacht, der jetzt seine Zeit vermut¬
lich sogar nicht ungern mit einer Josef¬
städter Regie verbringen wird. Was an
prominenten Regisseuren und Schau¬
spielern des Berliner Theaterlebens der
Linksgesinnung noch nicht überführt ist oder
seine rassisch verdächtige Abstammung
augenblicklich mit nicht gerade beneidens¬
werter Charakterfixigkeit geschickt be¬
mängelt, hat gleichwohl nur eine knappe
Gnadenfrist verächtlicher Duldung vor sich.
Die Berliner Zeitungsverleger, die in
ihrer Majorität nicht gerade von den
konnte. Es sind die ersten unter jenen
Namen, auf die Deutschland bis jetzt in nicht
gerade allzu bescheidener Weise stolz war.
Schauspielerinnen, die den Zauber und die
Energie ihrer Anmut über den Erdball
trugen und gleichwohl jetzt ein vermutlich
bald schnöde erledigter Rassebelang vor¬
den sind, Männer die das Handwerk des
Theaters mit bekennerischer Inbrunst be¬
treiben, immerdar einer Idee und sei es
auch nur der restlos hingegebenen Traum¬
lebens, dienend, Schriftsteller, die in jeder
polemischen Zeile, mit der sie angeblich den
Landesverrat sittlich unumgänglichen Pazi¬
fismus der Seele und der Dialekt übten,
noch immer die besten, weil die aufrich¬
tigsten, die kritischesten und die fanatisch
und selbstmörderisch opferwilligsten Deut¬
schen waren.
Es fehlt im Kreise dieser Flüchtlinge
der Kultur und der Ehre und nicht minder
derer, die ihnen kameradschaftliche und
miteuropäische Treue der Gesinnung halten,
ganz einfach und banal gesagt, nur an Geld.
Aber Geld ist ein realer, ein nur realer Ve¬
lang, der von einer großen Gewißheit und
Erfülltheit noch stets bewältigt worden ist.
Anwesenheit des Geistes allein ist eine große
und beglückende Bereicherung. Und eine
seltene Gnade, dieses Asyl des Gedanken¬
rechtes und der selbstverständlichen Sittlich¬
keit auch im Meinungsstreit bieten zu
dürfen. Welthistorische Rolle des Kultur¬
gewissens, durch die Mozarts und Schuberts
Harmonie des musikalischen wie moralischen
Takts schimmert.
Ein soeben Angekommener sprach es
aus:
„Ich bin in Oesterreich. Ich atme
wieder
Ludwig Ullmann