VII, Verschiedenes 13, 1932–1933, Seite 52

Fällen verständlich feige Selbsttäuschung
Die Dichter, die Publizisten, die Theater
leute, die auf den gewissen Enthebungs¬
listen der neudeutschen Antikulturpropa¬
ganda stehen, werden sich für längere Zeit
eine neue Heimat suchen müssen, was ihnen
psychologisch keine Schwierigkeiten bereiten
dürfte, aber auch ein neues Arbeitsfeld
und hier eröffnet sich eine katastrophale, von
der Tücke des Schicksals geradezu teuflisch
komplizierte Perspektive.
Wien hätte jetzt jede Chance auf allen
geistigen Gebieten: in Bälde werden ver¬
mutlich die ersten Schriftsteller Deutsch¬
lands, zumindest die agilsten und aktivsten
Publizisten hier versammelt sein. Jener
Umsturz der Gesetze, der Begriffe und jeg¬
licher Kulturvoraussetzung hat sogar aus
Max Reinhardt jenen simplen Herrn Gold¬
mann gemacht, der jetzt seine Zeit vermut¬
lich sogar nicht ungern mit einer Josef¬
städter Regie verbringen wird. Was an
prominenten Regisseuren und Schau¬
spielern des Berliner Theaterlebens der
Linksgesinnung noch nicht überführt ist oder
seine rassisch verdächtige Abstammung
augenblicklich mit nicht gerade beneidens¬
werter Charakterfixigkeit geschickt be¬
mangelt, hat gleichwohl nur eine knappe
Gnadenfrist verächtlicher Duldung vor sich.
Die Berliner Zeitungsverleger, die
ihrer Majorität nicht gerade von den
Kämpfern des Teutoburger Waldes ab¬
stammen, haben sich gleichwohl beeilt, ihre
nicht arischen Mitarbeiter mehr oder
weniger fristlos abzuschütteln. Ja, man
hört, daß einem bisher Prominenten des
Ullstein-Verlages als Abfertigung sogar
die geschenkweise Ueberlassung der von ihm
bisher redigierten Zeitschrift angeboten
worden ist, da sie in ihrer übrigens völlig
unpolitisch freien und befreienden Tendenz
sarkastischer Unabhängigkeit der Vernunft
und der Ironie sogar den Eigentümern
inmitten des
allgemeinen Stechschritt¬
Chaos auf lange Zeit hinaus deplaciert
scheint.
Lion Feuchtwanger ist von seinem
eigenen, reichlich mitverdienenden Verlags=
haus verleugnet worden, das letzte Dorf
Schlesiens reißt bisher devotest gewidmete
Gerhart Hauptmann=Straßentafeln herab,
der Dichter des „Hannele" selbst wird offi¬
ziell als der Dramatiker des marxistischen
Umsturzdeutschland gestempelt“, und in
einer sehr verbreiteten deutschen Zeitung
konnte man dieser Tage über den Liebelei¬
Film lesen, er sei ein aufreizend unsitt¬
liches Produkt, entstanden in Anlehnung
an das moralisch ohnehin genügend uner¬
freuliche Theaterstück Arthur Schnitzlers.
Die Berliner Borderen weder
haben die Situation, das kann man wohl
sagen, ebenso six wie feig und frech erfaßt.
Um so schadenfreudiger vernimmt man die
Kunde, daß den engeren Mitarbeitern Max
Reinhardts die eigene Erniedrigung und
Niedrigkeit der Preisgabe des größten
lebenden Theatermannes der Zivilisation
unter dem Namen — und dem unausge¬
sprochenen Hetzbegriff — eines Herrn Gold¬
mann so gut wie nichts genützt hat. Ihre
national ungeistige Zuverlässigkeit erschien
dadurch keineswegs garantiert und man
forderte sie sehr dringlich auf, sich auch
sämtlicher übriger Mitarbeiter zu ent¬
ledigen, die an Abstammung und Ge¬
sinnung das gewisse Etwas zu wünschen
übrig lassen. In diesem Zeichen, im
Zeichen solcher Verflachung und solcher
Rückgratsschwäche sand vor einigen Tagen
die erste Premiere des neuen Regimes, die
eines ausgesprochenen, aber wie versichert
„Simplicissimus", läßt auf einer Schluß
seite rund um den Grabstein Bismarcks die
korrig kahlen deutschen Eichen wieder in
zarten, jungen Trieben ergrünen. An
schlotternd gutem, hemmungslos after¬
aktrobatischem Willen fehlt es gewiß nicht.
Aber es fehlt weiß Gott an Talent, an Ein
fällen, an Schwung, es fehlt an dem, was
jetzt konsequent ausgetrieben, geachtet und
zu Schanden geprügelt wird: an Geist.
Wien, wie gesagt, erhält jetzt dafür den
Ueberfluß, und zwar leider, leider, einen
wirklichen Ueberfluß. Man braucht Namen
nicht erst zu nennen, um darzutun, was alles
jetzt hier präsentiert und produziert werden
Erfülltheit noch stets bewältigt worden ist.
Anwesenheit des Geistes allein ist eine große
und beglückende Bereicherung
Und eine
seltene Gnade, dieses Asyl des Gedanken¬
rechtes und der selbstverständlichen Sittlich¬
keit auch im Meinungsstreit bieten zu
dürfen. Welthistorische Rolle des Kultur¬
gewissens, durch die Mozarts und Schuberts
Harmonie des musikalischen wie moralischen
Takts schimmert.
Ein soeben Angekommener sprach es
aus:
„Ich bin in Oesterreich. Ich ame
wieder
Ludwig Ullmann