VII, Verschiedenes 13, 1933–1934, Seite 9

Aus dem Nachlaß von ARTHUR KAIANE
Hermann Bahr feier, am 19. Juli seinen Tradition des Bodens, von Stifter über Kürnberger zu
Speidel, großväterlich gesichert fühlte. Eine so lebendige
70. Geburtstag.
Suggestion ging von dem Fluß und der farbigen Leiden¬
Als ich ihn kennenlernte, war es uns beiden, als ob wir
schaftlichkeit dieses Stiles aus, der die einen mit dem Reize
einander immer schon gekannt hätten. Mein ganzes Leben
eines täglichen Abenteuers entzückte, die anderen zur
war Begegnung mit Hermann Bahr. Ich bekenne, keinen
Raserei brachte, daß ihr alle unterlagen, ob sie nun in seiner
stärkeren persönlichen Einfluß erlebt zu haben als von dieser
Art oder in der eigenen Art oder, aus Wut, erst recht in
glänzendsten und lebhaftesten Erscheinung unserer Jugend,
der entgegengesetzten Art von ihm zu schreiben lernten.
diesem faszinierenden Anreger und gran animatore.
Jetzt gab es auf einmal eine Wiener Literatur. Er sagte
Wie mir erging es fast einer ganzen Generation. Nur
es so laut und so lange, bis es sogar die Wiener zu
daß es Menschen gibt, die von einer ersten Liebe nicht los¬
bemerken anfingen, daß Schnitzler, Beer=Hofmann, Hof¬
kommen und ihr treu bleiben. Und andere.
mannsthal, Andrian und Peter Altenberg lebten und sogar
dichteten. Jetzt gab es eine österreichische Literatur: Bahr
Es war eine Liebe auf den ersten Blick. Als ich ihn das
entdeckte die „Provinz“. Jetzt gab es wieder ein Wiener
erstemal sah — in dem sagenumsponnenen Café Griensteidl —
Burgtheater (das in den letzten Jahren zu einer norddeutschen
wußte ich, ohne daß es mir jemand sagte und ohne daß ich
Enklave mit französischem Repertoire geworden war). Jetzt
je vorher ein Bild von ihm gesehen hatte, das ist Hermann
gab es eine Wiener Sezession. Die Kunst wurde zu einer
Bahr. Als ich das erste Buch von ihm las — es war der
Angelegenheit, über die sich die ganze Stadt aufregen durfte.
Roman „Die gute Schule" in den grünen Heften der „Freien
Es gab den Kampf um Klimt, um Olbrich, um Burckhard,
Bühne —, wünschte ich: wenn ich Romane schreiben könnte
um Mahler. Und in jedem dieser Kämpfe war es Bahr, der
würde ich so schreiben.
gegen eine Welt kleiner Feindlinge, gegen eine unsichtbare
Es ist nicht zu sagen, welche Wirkung damals von Bahr
Camorra der Böswilligkeit nicht nachließ, bis sich eine
ausging, als er nach seinen wilden Wanderjahren von Berlin,
immer widerstrebende Gesellschaft, im guten oder im bösen,
Paris, Spanien, Rußland und wieder Berlin nach Wien
wenigstens vor der überlegenen Einmaligkeit dieser schöpfe¬
heimkehrte, um die in behaglichem Duseln sanft verduselte
rischen Männer neigte.
süß dahinträumende Stadt aufzuwirbeln und sie aus dem
Das Geheimnis seiner Wirkung war, daß in dieser krit¬
allzu Oesterreichischen weg wieder Europa einzuverleiben.
telnden, aber eigentlich unkritischen Stadt ihr bester Kritiker
Die Wirkung war laut genug. Er trat nicht eben auf leisen
im Grunde auch kein Kritiker und keine kritische Natur,
Sohlen auf und bewies nicht die mindeste Scheu, an alle
sondern einer war, der zu aller Erscheinung ja sagen mußte.
heiligen Schläftigkeiten zu rühren. Er brachte das Brio
Dieser Mann ist in das Leben und in die Zeit, in der er
sämtlicher Revolutionen mit, die sich draußen in Literatur,
lebt, so leidenschaftlich verliebt, daß es den in allen Epochen
Kunst, Theater und Lebensgestaltung vorbereiteten, und ließ
der Kultur Behausten nicht eher ruht, als bis er die Super¬
es auf die schöne Schläferin Wien los. Die rieb sich verdutzt
lative der Vergangenheit, eifersüchtig fast in der Gegenwart
die Augen und tat mit. Weil nämlich der neue Freier nicht
wiedergefunden hat. Ist unsere Zeit nicht reich, schön und
bloß jung, fesch und elegant war, was in Wien nun einmal
stark genug, um ihren, ihren Franziskus, ihren Nova¬
dazu gehört, nie fad, nie langweilig, immer amüsant, und
lis, und ihren Kleist hervorzubringen? Darf man sich durch
weil er nicht bloß graziöser schreiben, witziger reden konnte
die Nähe, bloß dadurch, daß unsere Dante, Franziskus, No¬
als alle anderen, sondern weil er sie mit der verwegenen
valis Kleist mitten unter uns wandeln und jene nicht, die
Frechheit anpackte, gegen die sie nun einmal alle wehrlos
Augen gegen ihre Größe verschließen lassen? Dieselben, die
sind. So möchte man sich den jungen Alcibiades vor¬
unsere Großen verkennen, wären auch blind an jenen vor¬
stellen, wie Bahr damals auftrat. Jeden Tag mit einer neuen
übergegangen. Und aus diesem Gefühl, dieser ehrfürchtigen
Ueberraschung, mit einer neuen Gaminerie, einem neuen
Sehnsucht nach dem Großen, die ihn lieber überschätzen als
Einfall, einer neuen Entdeckung, einer neuen Ueberwindung
verkennen läßt, ist Bahr zu dem fast sprichwörtlichen Er¬
die Wiener verblüffend. Redend, schreibend, in einem auf¬
decker so vieler geworden.
regend neuen Ton voll Grazie und Elan, organisierend
Was geschah damals in der europäischen Kunst, in der
Zeitungen gründend, im Theater, in der Gesellschaft, aggressiv
europäischen Kultur, in der europäischen Seele, das nicht in
gegen alles Verkalkte im Wienertum, und mit einer jähen
Wien sein wirkendes Echo fand? Weil dieser unermüdliche
überrumpelnden Begeisterung ohnegleichen sich für alles Neue
Mittler da war, der das Kommende erriet, witterte, beschrieb
einsetzend. Jeden Tag mit neuem Stoff für Klatsch, Wut
und propagierte, war er nicht der erste, der die Ueberwindung
und Entrüstung ausfüllend, so daß die Mäuler nicht zur
des Naturalismus durch den Psychologismus und durch
Ruhe und die Gemüter nicht aus der Aufregung herauskamen.
einen neuen Stil kommen sah? War er nicht einer der ersten,
Sein geliebtes „Epater les bourgeois schien das Losungs¬
die für Maeterlinck und Oscar Wilde warben? War er nicht
wort, so, als ob das Ganze zu nichts wäre, als die „Spießer
der erste, der von der Duse sprach? Und der die schau¬
zu giften", wie wir uns das so hübsch ins Wienerische über¬
spielerische Aktion Novellis mit einer so vehementen Gegen¬
setzten. Bis man auf einmal merkte, daß hinter all den
ständlichkeit schilderte, daß sie, wie in einem Phonographen
gassenbübischen Eulenspiegeleien ein ganz anderer Zweck,
aufbewahrt, über den leiblichen Tod des Mimen hinaus
ein sehr ernster Plan steckte: mitten in dem alten schönen
lebendig bleibt?
Wien ein neues ebenso schönes aufzubauen, in dem es auf
Und dieser Meister des Feuilletons, dessen Kunstform ihn
einmal von neuen Kräften und einer Fülle starker Be¬
liegt wie kaum einem zweiten, schrieb, außer den Essais, in
gabungen wimmelte. Weil aber Bahr die Skepsis der Wiener
denen der unverdrossenste Leser, der nie Fertige, rastlos an
gegen jedes in Wien aufgewachsene Talent und die Unlust
sich Weiterarbeitende den ganzen Bildungskomplex der Zeit
de Wiener, sich einen Ernst anders als spielend beibringen
zu einer letzten Endes tief einheitlichen Weltschau aufgesam¬
zu lassen, nur zu genau kannte, mußte der Schlaue die
melt hat, unerschöpflich für das geliebte Theater: Schauspiele,
Widerspenstigen überlisten und ihnen den Eulenspiegel vor¬
Volksstücke, Lustspiele, gewiß die witzigsten und scharmantesten
machen. Was außerdem seiner Natur sehr entgegenkam und
die aus Oesterreich kamen, und eine Reihe von Romanen
ihm diebischen Spaß bereitete.
ein Oeuvre, das in seiner Gesamtheit und Typologie einma
Er steckte alles an mit seiner wirbelnden Vitalität. Talente
das geschlossenste und vollständigste Bild des alten Oesterreich
waren natürlich schon früher da: aber jetzt bemerkte man si¬
darstellen wird, das es gibt. Sicher das amüsanteste.
erst. Sie trauten sich zu arbeiten, zu schaffen, zu wirken.
Gedankt haben sie es ihm nicht. Wenn er nur das mindeste
Sie trauten sich zu schreiben. Sogar seine Feinde fingen
Talent dazu hätte, enttäuscht zu sein, Gelegenheit dazu war
auf einmal an, besser zu schreiben. Wenn auf Bahr ge¬
genug da. Aber Gott sei Dank liegt ihm keine Rolle weniger
schimpft wurde, wurde auf Bahrisch geschimpft. Es lag
als die des Verbitterten. Wenn's ihm zu viel wird, gibt er
eie unglaubliche Verführung in diesem Bahrischen Frühstil,
leichten Herzens das hübsche Haus auf, das ihm Olbrich in
in diesem sprudelnd witzigen, behenden, verwegenen Im¬
Ober=St.-Veit gebaut hat, und geht nach Salzburg, das noch
pressionistisch, das, hingewischt, hingetupft, jeder abgetasteten
schöner ist. Oder schließlich nach München. Aber selbst im
Wendung mühelos aus dem Wege, sich seine überraschend
neuen, seine kecksten Bilder von der Straße und von der
Münchner Exil wird es ihm nicht einfallen, die Tristia ex
Liebe holte, durch Grazie vor der Gefahr behütet, in Bul¬
Ponto zu schreiben. Er hängt an keinem Orte und an keinem
garität oder gar in die sonst übliche Ruppigkeit der Neutöner
Besitz. Die Dinge des äußeren Lebens sind ihm ziemlich
zu fallen, und das um so souveräner mit den Gewohnheiten
unwesentlich. Vielleicht unwesentlich geworden, seitdem er
der Sprache umspringen konnte, weil es sich in der guten
selbst wesentlich geworden ist. Es gibt keinen, der gegen Er¬