VII, Verschiedenes 13, 1933–1934, Seite 45

13. Miscellaneous
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Wien, Dienstag
Bahr einige Jahre später zu den begeistertsten Lobrednern der
Herzlichen Feuilletonkunst zählte. Von zwei Universitäten
relegiert, geht Bahr ins Ausland. Schon als Student hat er
zur Feder gegriffen und sich sehr temperamentvoll mit dem
Nationalökonomen Schaffle auseinandergesetzt. Jetzt ent¬
stehen bereits in rascher Folge seine ersten belletristischen
Schriften. „Die Ueberwindung des Naturalismus" schlägt
ein. Schon bildet sich um den nach Wien Zurückgekehrten ein
Kreis, der ihm treue Gefolgschaft leistet. Im Café Griensteidl
residiert der Wiener Literaturpapst. Dorthin kommt der
junge Arthur Schniker, gleich seinem Meister mit der schön¬
frisierten Locke tief in der Stirn. Und Hofmannsthal, der
als Schüler des Akademischen Gymnasiums seine Erstlinge
nur unter dem Pseudonym Loris veröffentlichen darf. Beer¬
Hofmann gehört der Runde an und Leopold Andrian und so
mancher andere, den Bahr zum Ritter geschlagen hat. Daß
der Ritterschlag manchmal den Unrichtigen adelte, mußte mit
in den Kauf genommen werden. Bahrs Theaterstücke er¬
scheinen in fast ununterbrochener Folge, Viele von ihnen
werden aufgeführt. Mit wechselndem Erfolg. Gelegentlich unter
Donner und Blitz eines Theaterskandals. Dazwischen ver¬
öffentlicht er die ersten seiner Essaybände, darunter einen, der
auf das schärfste mit dem Antisemitismus abrechnet. Sein
starkes Lustspieltalent ist bald über allem Zweifel erhaben.
„Wienerinnen wird zum großen Theatererfolg. „Josefine
damals als unerhörte Keckheit angestaunt, ahnt Bernard
Shaw voraus, „Der Star", „Krampus“, „Der Meister", das
Stelzhamer=Stück „Franzl“ werden Repertoirestücke auf
allen deutschen Bühnen.
Wie alles und jedes hat Hermann Bahr auch das
Theater mit der ganzen Impetuosität und Leidenschaftlichkeit
seines Wesens angegangen. Er hat eigentlich einen neuen
Stil der Theaterkritik geschaffen, der freilich im Extremen
schwelgte, nur die Höchst= und die Tiefstgrade des Thermo¬
meters kannte. Daß dieser Stil von Berufenen und Un¬
berufenen nachgeahmt, übertrieben und karikiert wurde,
konnte Bahr nicht verhindern. Aber jene einzigartige Er¬
kenntnis einer schauspielerischen Individualität konnte nicht
kopiert werden. Wie deutlich erinnern wir uns an einen
Abend im Carl-Theater. Ein halbleeres Haus, zumeist Frei¬
kartler. Nicht viel Stimmung im Publikum. Man denke
einmal, eine italienische Truppe, deren Mitglieder kein
Mensch kennt. Im ersten Zwischenakt stürmt Bahr von
seinem Sitz auf und ruft mit Stentorstimme über das
Parkett hinweg: „Das ist die Schauspielerin unserer Zeit!
Das ist der große Genius!“ Es war Eleonora Duse, die
damals nicht nur für Wien, sondern für die Welt entdeckt
de.
Das Theater hat auf die Dauer Hermann Bahr nicht
auszufüllen vermocht. Es kamen die Sturmtage, in denen
auf dem Gebiet der bildenden Kunst sich ein Umsturz voll
zogen hat. Die „Sezession" wurde gegründet und Hermann
Bahr ist es gewesen, der die literarischen Fanfaren geblasen
hat und mit Berserberwut gegen alle ankämpfte, die er zu
den Philistern zählte. Unterdessen hatte er sich längst von dem
guten Europäer, der zu sein er sich als junger Mann gerühmt
hatte, zum überzeugten und begeisterten Oesterreicher speziali¬
siert. Er wurde zum Schwärmer für das österreichische Barock
und die Begeisterung für die Kunst seines Vaterlandes ließ
ihn auch Ausflüge auf das politische Gebiet machen. Seine
Schriften über die österreichische Mission, „Austriaca,
ein

erhöhten
Neue Freie Presse
geisterten Vorkämpfer seiner Sendung besessen. Sein Name
wird mit der Geschichte dieses Hauses ständig in hohen Ehren
verbunden bleiben.