VII, Verschiedenes 13, 1933–1934, Seite 47

13. Miscellaneous
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Hermann Bahr gestorben.
Wunders schöpft, der „Stimme", die ihn zum Dogma führt,
Mitsinn jedem Herzensdrang.
zur Unterworfenheit unter das Gebot des Priestertums. All
Nun hat er sein letztes Gesicht, der Vielgesichtige. Nun
diese Phasen waren nicht etwa Verkleidungen, es war auch
ist auch er zur Ruhe gekommen, dieser Wanderer im Sinne
nicht, wenigstens in den späteren Tagen nicht mehr, die Lust
Goethes. Kennt ihn die heutige Generation und wird er den
daran „den Spießer zu giften", die biederen Jubelgreise mit
gegenwärtigen Menschen mehr sein als ein Widerhall aus
dem Podagra der Berühmtheit in Grund und Boden zu
der Vergangenheit? Werden sie Zeit und Geduld haben, den
ärgern. Hermann Bahr hat immer für immer geliebt, wie es
Wurzeln dieser verästelten Persönlichkeit, der Wandlung
ein geistvoller Franzose ausgedrückt hat. Er ist wahr gewesen,
seiner Meinungen nachzuspüren? Werden seine Novellen und
als er zu Füßen Adolf Wagners gearbeitet hat, wahr, als
Romane, seine Streitschriften und Tagebücher gerettet werden
ihn Paris zu dem Hymnus begeisterte: Milliardenmal
können, wie sie es verdienten, aus der Flut der Vergessen¬
müßte ich schreiben, um mein Gefühl auszudrücken: da bin
heit? Wird er Gestalt bleiben, in der Bedeutung, wie es
ich zum Menschen erwacht, da ist der Künstler in mir er¬
ein anderer großer Toter der Literatur, wie es Jakob Wasser¬
standen. Wenn ich vielleicht was kann, und was ich noch
mann verstanden hat? Hermann Bahr hat die Tragödie mit¬
jemals werde, das alles verdanke ich Paris. Für ihn war
gemacht eines immer und unter allen Verhältnissen Modernen,
ein Buch von Maurice Barrès, von dem heute niemand mehr
wie er es einmal in seinen Schriften vom Kritiker ver¬
zu sprechen vermag, das größte Buch des Jahrhunderts Der
langte. So bietet er nicht jene Einheitlichkeit, jene Erstarrung,
Kritiker, das war ihm eine Kunst der Eiertänzer, Feuer¬
jene kraftvolle Monotonie, die dem Gedächtnis sich gewaltsam
fresser und Messerschlucker, über alles sich lustig machen, über
einprägt. Hermann Bahr war von Anfang an seiner Zeit
alles schwätzen und sich selber verhöhnen, das verkündete er
voraus, stets Herold und Verkünder des Neuen, immer wie
mit fröhlicher Frechheit als seine Maxime.
ein geistiger Seismograph die Strömungen erfühlend, mochten
sie noch so geheim die Schichten des Bodens durziehen. Aber
Allein, wie bald verschwand dieses Bild zugunsten des
eines vermochte er nicht vorauszusehen, den vollkommenen
Gesellschaftskritikers, der mehr als irgenden anderer und
Zusammenbruch des Intellekts, die Abdikation des Geistes
tiefer als irgenden anderer österreichisches Wesen gesehen und
und die Ohnmacht aller Bildung. Diese Menschen, Hermann
erkannt hat. Alles was jetzt über Barockkultur zum Teil
Bahr, Arthur Schnitzler. Hugo v. Hofmannsthal, sie kamen alle
recht oberflächlich gesprochen wird, ist Hermann Bahrsche
aus der Luft der neunziger Jahre, da de Gesellschaft gab,
Fechsung. Der ganze konservative Grundzug, vielfach in
da die Monarchie noch lebte, da Melodie geschätzt wurde
unserer Literatur vertreten, ist zum großen Teil Aus¬
und formvollendeter Schliff des Ausdrucks, sublime Ironie,
strahlung seines Wirkens. Wie geistreich, wenn er sein
die sich auch gegen sich selber wendet, Menschlichkeit mit einem
eigenes Wesen mit dem Schlesiertum seiner Ahnen in
Wort und Gläubigkeit und sei es auch nur für das Evangelium
Verbindung bringt, nicht mit dem Oberösterreichertum
der Farbe, der Linie und des Wortes, wie es der Held
des Linzers. Und wenn er außerdem die fränkische Wurzel
Bernard Shaws in seinem Testament verkündet. Daß
seiner Ahnen hervorhebt als das gestaltende Element in ihm,
die Welt einmal all diese Güter mehr oder minder zer¬
als jenes, das aus seinem Geiste einen „schaffenden Spiegel
brechen werde, hohnlachend aller Väterweisheit, verdammend
formte, um eines seiner Lieblingszitate — es stammt von
alles, was sich nicht nach der Decke der Mächtigen zu strecken
Leibnitz und wurde von Goethe verwendet — anzuführen. Noch
vermag, diese große geistige Entgüterung freilich konnte er
ganz zuletzt hat er mit dem Rasseproblem gerungen, wiederum
nicht voraussehen, und wenn er gelebt hätte, nicht so lange
mit jener geheimnisvollen Voraussicht, die ihn auszeichnet,
schon dem Irdischen entrückt, er wäre vielleicht an dieser
und er hat jene Lösung zu finden versucht, die einzige, die
inneren Fremdheit zugrunde gegangen, er, der freie Denker,
eines „geborenen Benediktiners" würdig war, wie er sich
der echte Katholik und der echte Oesterreicher.
selber nannte, die einzige katholische, nämlich die Befreiung
Das alles war Hermann Bahr und noch viel mehr.
von der Rassenidee durch den Geist, die Ueberwindung des
Denn er war unter allen Mitstrebenden die stärkste nach
Volkes durch den Willen zur Heiligung und zur Allgemein¬
außen gewendete Persönlichkeit, er was stets das Bild dessen,
schaft. Es ist ein furchtbarer Augenblick, da wir von solchen
was er gewollt hat; immerdar richtete sich seine Physiog
Kraftquellen des Geistes und des Herzens Abschied nehmen
nomie — sie ist tausendmal geschildert worden — nach dem
müssen, da wir Freunde verlieren, die gerade der heutigen
Stil seines Wirkens und Forderns. Zuerst Deutschnationaler,
Menschheit so unendlich vieles an Schätzen der Bildung,
der als Student von Bismarck über die Unmöglichkeit des
an goldenen Früchten der Erfahrung hätten spenden können.
Großdeutschtums Lehren empfing, dann Sozialist, beinahe
Nun hat sich dieses mächtige Haupt, das priesterlich und doch
empörerhaft in unsere Zeit hineinragte, vor dem Schicksal
Marxist, der in einer heftigen Streitschrift Schäffle bekämpfte,
dann Naturalist und Edelanarchist, Symbolist und
für immer beugen müssen. Ein großer Entdecker, ein
Dekadent, Prophet von Strindberg und Dostojewsky,
Anreger beispielloser Art, der letzte Enzyklopädist vielleicht,
d'Annunzio und Huysmans; schließlich aber, und das
wenn auch mit religiöser Grundlage, geht mit ihm dahin.
Für uns aber vor allem ein liebenswerter gütiger Mensch¬
war das Dauernde, die letzte große Phase, ein Gläubiger,
ein in den Schoß der Kirche Zurückgekehrter, der aus
schwerster Krankheit heraus das unmittelbare Erlebnis des