VII, Verschiedenes 13, 1933–1934, Seite 58

box 447
13. Miscellaneous
Befreundel mit Peter Altenberg,
Aus den Erinnerungen der englischen Tänzerin Gertrude
Barrison. — Zu Peter Altenbergs fünfundsiebzigstem Geburtstag.
Es wäre unhöflich und würde melancholisch machen, wollte Gewissen hatte sie auch. Sie war ihren Schwestern davongegangen.
man nachrechnen, wie lange das alles schon einer dem Heutigen Sie wollte nicht mehr Songs zwitschern und dazu neckisch über die
Variétérampe trippeln, mit Kußhändchen zum Beschluß. Jetzt,
unvorstellbaren Vergangenheit angehört...
Es war einmal. Damals tanzte ein entzückend schlankes, da sie allein war, wollte sie tanzen, was das Herz bei Achtzehn¬
jährigen fühlt: Wind des Frühlings, Liebe des kleinen Mädchens,
äußerst blondes Mädel mit den Babylocken der schon zu jener Zeit
grassierenden englischen Girls in Wien. Zum erstenmal hatte sie das sie war. Sich selbst wollte sie tanzen.
An diesem ersten Abend ist Peter Altenberg, über den sie
sich von ihren berühmten Schwestern emanzipiert. Sie wollte nicht
mehr ein anonymes Girl von den Fünfen sein, die als the fisters bis dahin höchstens verwundert gelächelt hatte, ihr Freund geworden.
Barrison durch die europäischen Variétés reisten. Im schmalen Das Publikum des Kabaretts applaudierte. Weshalb hätte es der
kleinen Tänzerin Gertrude auch nicht applaudieren sollen? Sie war
Boticelli=Gesicht Gertrudes leuchteten zwei reine und sanfte Augen
niedlich, hatte reizende Locken, einen süßen Mund. Jung und rein
die diesmal nicht die Porzellanbläue der englischen Babytänzerinnen
flog sie wie ein verirrter Falter ums „Nachtlicht“. Aber daß sie
hatten. Heiterkeit und Frische atmete ihr junges Wesen. Ein kleines
an jenem Abend, nach der Variétévergangenheit mit den fünf
beherztes, wie von einem Frühlingswind herangewehtes Mädchen
Sisters Barrison, zum erstenmal ihr ganzes Herz getanzt hatte,
glitt sie eines Abends hinaus aufs Podium des damals einzigen
Kabaretts von Wien. „Nachtlicht" hieß es, worunter man sich wahr erriet keiner und sagte ihr niemand als der häßliche Peter Altenberg.
Heute nach so vielen Jahren erinnert sie sich lächelnd
scheinlich etwas sehr Verruchtes vorstellte. Aber es waren jung¬
und gerührt ihres Erlebnisses, mit dem die Achtzehnjährige nichts
Literaten, Künstler, Kunstschüler, Bohemiens und die damals noch
rechtes anzufangen wußte. P. A., immer originell, führte die
hochmodernen „Aestheten“, die sich dieses Nachtlicht angezündet
hatten. Und das heißt, daß mit Zuhilfenahme kleiner Mariahilfer kleine Barrison zur Einweihung der neuen Freundschaft in ein
Freundinnen aus der Konfektionsbranche höchstens Orgien ver¬ wirkliches Nachtlokal. In eines, das nachweisbar „unanständig
und nicht bloß ein solid halbbürgerliches, künstlerisches Kabarett
anstaltet wurden, die auf das Bezahlen oder Schuldigbleiben eine
halben Dutzends Feingespritzter und kleiner Kognaks hinausliefen, war. Ein junges Mädchen, behütet von einem wunschlos ihre
Schönheit bestaunenden, also sonderbaren Heiligen, saß Gertrude
Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, gibt es einem schon
einen kleinen Riß, wenn man die Namen der Stammgäste dieses Barrison zum erstenmal in ihrem Leben in einem Nachtlokal,
das, abschrecken genug „Casino de Paris" hieß. Sie erinnert
„Nachtlichts", nachmals „Fledermaus" lieft. Sie hießen Adol
sich an diese Mitternachtsstunde wie andere Frauen an eine
Loos, Gustav Klimt, Josef Hoffmann, Egon Friedell. Der aus
poetische Frühlingswiese, in deren grünem Gras sie zum
Versehen nicht Hellebardier des Dreißigjährigen Krieges geworden.
erstenmal und hochanständig neben ihrem Künftigen aus der
Maler und Karikaturist Hollitzer war unter ihnen. Marc Henry
Autoreifenbranche saßen.
und die als schwarzes Samutteral auftretende Marya Delvard ge¬
Ganz unwürdig war die kleine Gertrude ihres glatz¬
hörten zu diesem Kreise, zu dem auf der Flucht vor dem theater¬
köpfigen Dichters aber sicher nicht. Eines Tages hatte sie zum
historisch gewordenen spanischen Röhrl ihres Ballettmeisters Haß
Beispiel den Einfall, im Freundeskreis eine Skizze von P. A.
reiter das blutjunge und frischentdeckte Hietzinger Mädel Gret
vorzulesen. Das schien ihr selbst ein gewagter Einfall. Denn sie
Wienthal kam.
Aber noch einer war da. Vor allen anderen war er da! stand damals mit jedem Deutsch, nicht nur dem eines Dichters,
auf Kriegsfuß. Sie radebrechte zwanzig Zeilen Peter Alten¬
Glatzköpfig, häßlich, ein Schrullengreis schon mit fünfzig Jahren
kindlich sich ereifernd und weise wie Sokrates, Gespött der bergs — und er war entzückt. Er schwur ihr, daß er es nie
wienerischen Spießer und Heiliger der kleinen Mädchen von der übers Herz bringen würde, seine zerbrechlich zarten, kleinen,
Kärntnerstraße — saß Nacht für Nacht der kleine, große Peter gläsernen Prosadichtungen einem Fatzke von Schauspieler zum
Vortrag zu überlassen. Aber er erschrack nur ganz wenig, als
Altenberg, P. A. genannt, im „Nachtlicht", in der „Fledermaus"
die kleine Barrison sich eines Tages ein Herz nahm und um
Hört man Gertrude Barrison, die aus der kleinen Girl¬
Erlaubnis bat, ein paar seiner Sachen in Berlin einem größeren
tänzerin von einst eine sehr seriöse Dame mit wissenschaftlichen
Auditorium vorlesen zu dürfen. Er gab die Erlaubnis. Und
Interessen geworden ist, von jenen verschollenen Tagen oder eigent¬
überschwenglich dankte ihr der kleine Mann, als er hörte, daß
lich Nächten sprechen, so wird der kleine, rührende und häßliche
Sokrates namens Richard Engländer, vulgo Peter Altenberg, in man bei jener Vorlesung in Berlin einen großen Dichter namens
Peter Altenberg entdeckt hatte.
seiner belächelten und ergreifenden, belustigenden und tragischer
In Wien änderte sich deswegen nicht viel. In Wien zitierte
Erdengestalt unerhört lebendig.
Wer war P. A. damals? Er predigte das Evangelium des der Dichter P. A. nach wie vor am Monatsersten, ob der
Mäzen die Rente von fünf Gulden oder zwanzig Kronen schicken
Erbsenpürees. Er besang kleine Hotelstubenmädchen. Er sehnte sich
wie die gefallenen Engel nach dem verlorenen Paradies, nach einem würde. Gertrude Barrison hat den kindlich heiteren Altenberg
gekannt. Aber noch besser kannte sie den verzweifelten, ver¬
Sommer in Vöslau oder im Reichenauer Kurpark. Er beschimpft
nichtenden, exzedierend hoffnungslosen P. A., den der Geld¬
seinen besten Freund Adolf Loos, wenn er ihn nicht gerade um
briefträger wieder einmal im Stich gelassen hatte. Nur solche,
armte. Er hausierte durch die Nachtlokale mit bunten Kitschkeiten
aus Glas- und Holzkugeln. Er betete wunschlos reinen Herzens nur kleine Erinnerungen hat sie an ihren großen Freund. Für
pathetische Nekrologe ist auch heute, an seinem fünfundsiebzigsten
sechs Negergirls vom Ronacher und die zwölfjährige, im Volks¬
Geburtstag, noch nicht die Zeit da. Wahrscheinlich wird sie
garten Diabolo spielende Edith N. an. Und für einen große
Dichter hielt ihn, außer den Stammgästen vom „Nachtlicht", in niemals kommen. An Peter Altenberg denken, heißt: vom
Frühling, von der Jugend sprechen. Vielleicht sitzt dann als
Wien kein Mensch als Artur Schnitzler. P. A. hatte nichts dagegen
blasser Schatten der arme P. A. in einem Winkel, ist selber
wahrscheinlich hat er die Commasta längst schon für sein eigene
ein bißchen gerührt und denkt mit erbittertem Groll an die
Gesicht gehalten.
Mäzene, die dem Dichter, den sie heute feiern, bei Lebzeiten
Im „Nachtlicht" oder der „Fledermaus" war es. Mit
Gertrude Barrison tanzte. Ihr Herz war sehr schwer und schlechtes zwanzig versprochene Kronen schuldig geblieben sind...