VII, Verschiedenes 13, 1934–1935, Seite 6

13.
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Miscellaneous
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„OBSERVER
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Ausschnitt aus:
Das Echo. Wien
A MAI 1934
vom
Darf der Arzt die Wahrheit sagen:
In diesen Tagen haben die Wiener Gerichtsbehörden im Rahmen eines aufsehenerregenden Prozesses versucht, eines
der schwierigsten Probleme der Medizin — vielleicht die Gewissensfrage des Arztes überhaupt — zu lösen. Zwei berühmte
Wiener Professoren standen vor Gericht: ein Patient hat sie angeklagt, weil sie ihm die Wahrheit verschwiegen.
Die grauenvolle Wahrheit, daß er an unheilbarem Krebs leidet, daß sein Leben verloren ist. Das Gericht hat die
Klage schließlich abgewiesen. Der Richter entschied: Humanitätspflicht geht über Wahrheitspflicht.
Die beiden Professoren haben recht getan.
Wiens prominenteste Aerzte über dieses Problem
Prof. Wilhelm Neumann: „Bei
schweigen. Besonders, wenn der
Der Ausgang dieses Prozesses wird
Krebs sehr dagegen!"
Patient in der Lage ist, durch eigene
in den medizinischen Kreisen der ganzen
Vorsicht seine Leiden zu ver¬
Welt besprochen. Ein Richter entschied
Besonderes Interesse gewinnen die
ringern. Aber einem Menschen zu
über die Gewissensfrage, über die der
Ausführungen von Professor Wilhelm
sagen, daß er dem Tode geweiht
Arzt fast jeden Tag nach dem moralischen
Neumann, dem Internisten und
ist: Nein! Da bin ich absolut da¬
Gesetz in seiner Brust zu entscheiden hat.
Facharzt für Lungen erkrankun¬
gegen.
gen. Anknüpfend an den Prozeß der
Wir haben uns mit zwei der be¬
letzten Tage erklärte er:
rühmtesten Vertreter der Wiener
Dies ist die Stellungnahme des
Chirurgen Hofrat Professor Schnitzler zu
medizinischen Schule in Verbindung ge¬
„Ich bin bei Krebserkran¬
kungen absolut dagegen, den Pa¬
diesem Problem. Interessant ist es, daß
setzt und von Hofrat Professor Schnitz¬
sein verstorbener Bruder, der Wiener
tienten die Wahrheit zu sagen. Es gibt
ler und Professor Wilhelm Neu¬
Artur Schnitzler, vor vielen Jahren die¬
mann folgende Antwort auf diese Ge¬
nichts Ueberflüssigeres, als einem
selbe Antwort auf diese Frage gegeben
wissensfrage erhalten.
Menschen zu gestehen, daß er an
hat. In seinem Bühnenstück „Pro¬
Lungenkrebs leidet.
Hofrat Prof. Schnitzler: „Nein!
fessor Bernhardi" weigert sich der
Bei jeder lebensgefähr¬
Arzt dem Kranken die Sterbe¬
„Ich bin absolut dagegen,
lichen Krankheit muß man sich fra¬
sakramente reichen zu lassen. Um
einem Menschen zu sagen, daß er un¬
gen: ist die Wahrheit dem Patienten
ihn nicht bewußt werden zu lassen, daß
heilbar krank ist, antwortet Hofrat
von Nutzen oder von Schaden?
sein Leben zu Ende gelebt ist. Der
Professor Julius Schnitzler, der
Bei gewissen Erkrankungen des Her¬
Dichter Artur Schnitzler sagte, daß ein
große Chirurg. „Wenn es überhaupt
zens, bei Angina pectoris
Arzt die heilige Aufgabe hat, den
noch eine Rettungsmöglich¬
zum Beispiel, muß der Patient die
Todes kampf eines Menschen zu er¬
keit für einen Menschen gibt, so
Wahrheit erfahren. Durch Vorsicht
leichtern. Gestern hat der Chirurg
wird diese fast ausgeschaltet, wenn
und geregelte Lebensweise liegt es
Hofrat Schnitzler dieselbe Antwort auf
der Arzt dem Patienten alle Hoff¬
da in der Macht des Patienten, man¬
diese Gewissensfrage gegeben wie vor
nung nimmt. Allerdings — ich bin
ches zu vermeiden oder aufzuschieben.
Jahren sein Bruder. Nur mit ein
dafür, einem Menschen den Ernst
Das gleiche gilt auch für Tuber¬
bißchen anderen Worten . . .
seines Zustandes nicht zu ver¬
kulöse. Bei Tuberkulösen zwingt
auch noch folgendes den Arzt, den
Patienten über seinen Zustand auf¬
zuklären: die Gefährdung der
Umgebung muß hinangehalten
werden.
Im allgemeinen aber möchte ich noch
einmal sagen, daß ich prinzipiell da¬
gegen bin, einem Menschen überflüssig die
Wahrheit zu sagen.