VII, Verschiedenes 13, 1934–1935, Seite 42

13. Miscell
box 447
s
scher,
Das süße Mädel¬
unsterblich.
Wienerinnen in der Wirklichkeit und auf dem Theater.
Von
Franz Corch.
In der Literatur, besonders in der dramatischen, ist die
Gattung Wienerin, die heute alle Welt mit dem Begriff „süßes
Mädel“ verbindet, erst berühmt geworden, seit Artur Schnitzler
für sie diese Bezeichnung gefunden hatte. Seine Mizzi Schlager
und Christine Weyring führten ihre zahllosen lieblichen Ahnen
und Schwestern aufs anmutigste ins Schrifttum ein und sorgten
zugleich für eine würdige Stellung ihrer Nachfahrinnen.
Mädchen dieser Art freilich sind längst bekannt und geschätzt
gewesen, bevor für sie der passende Name aufkam. Süße Mädeln
gab es in ihrer Weise im Vormärz, im wienerischen Rokoko,
wann immer man will; sie singen und tanzen durch Raimunds
Zaubermärchen, sie tragen sogar antikes Gewand und wollen
uns einreden (blauen Dunst auf bestrickende Weise vormachen,
gehört zu ihren bereitwillig anerkannten Privilegien),
Griechinnen zu sein. Bald heißen sie Hero, bald Melitta, und
danken Franz Grillparzers Dichterschaft ihr holdseliges Dasein.
Mit ihrem Griechentum jedoch ist es ein eigen Ding: schaut
man näher hin und hört auf den Klang ihrer Sprache, den
Tonfall ihrer Sätze oder beachtet die Anmut ihres Denkens,
dann stellt sich bald heraus, daß in diesen Frauengestalten der
besondere weibliche Typus aus des Dichters Heimatstadt fest¬
gehalten wurde, ein Typus, den die Harmonie von innerer
und äußerer Grazie kennzeichnet.
Grillparzer und das Wiener Mädel.
Das Wiener Mädel — wie Grillparzer ihm im Leben
begegnete und wie es, einer Verkörperung seines Schicksals
gleich, den Weg dieses österreichischen Menschen bestimmte
beglückend und wiederum enttäuschend, begehrt und verstoßen,
himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt —, es lebt in fast allen
Frauengestalten seiner Dramen, so griechisch sich diese auch
äußerlich gebärden mögen. „Des Meeres und der Liebe Wellen
wird nur richtig erfassen und in den letzten seelischen
Beziehungen begreifen, wer die Wienerin verstanden und eine
Ahnung verspürt hat von der ungezwungenen und selbst¬
verständlichen Anmut ihres Herzens. Die Mischung von Gefühl
und Intellekt weist in Wien eine von anderswo durchaus
verschiedene Zusammensetzung auf. Beide gehen Verbindungen
ein, deren Ergebnisse und Auswirkungen jedem unbegreiflich
sein werden, für den ein so geartetes weibliches Wesen ein Buch
mit sieben Siegeln ist. Die Wienerin vermag in Augenblicken
zuzugreifen, wo das Temperament ihrer Schwester aus einem
anderen Lund diese längst über alle Berge gejagt hätte und
umgekehrt, ist sie imstande, geräuschlos zu verschwinden, wenn
zum Beispiel die Amerikanerin oder die Russin mit allem verfüg¬
baren Nachdruck ihre Gegenwart betont.
Besonders in Dingen des Empfindungslebens wird die
Haltung einer Frau stets die Beschaffenheit des ihr inne¬
wohnenden Menschentums erkennen lassen. Die Wienerin, ein
Lieblingskind Gottes, verfügt über einen angebornen Takt des
Herzens — man kann ihn auch Instinkt nennen —, der sie in
schwierigen Lebenslagen zumeist den richtigen Weg führt (der
keineswegs immer der vernünftige ist), ohne daß erst des langen
und breiten darüber gegrübelt werden müßte. Auch wenn dieser
Pfad nicht ins Glück mündet — hat das Herz einmal gesprochen,
von dessen Schlag alles Wert oder Unwert empfängt, dann gibt
es für eine Frau oder ein Mädel, die der Sturm ihrer Gefühle
jagt, keine menschlich zweifelhaften Lösungen mehr. Bedenkenlos
und frei von jeglicher mittelbaren Erwägung fällt die Ent¬
scheidung, gegründet einzig und allein auf das, was der Mensch
für recht und anständig hält. Dieser wäre nicht lebensfähig,
müßte er in seinem Allerpersönlichsten lügen und unter der Last