VII, Verschiedenes 13, 1934–1935, Seite 43

von da an die
Herzens — man kann ihn auch Instinkt nennen —, der sie in
schwierigen Lebenslagen zumeist den richtigen Weg führt (der
keineswegs immer der vernünftige ist), ohne daß erst des langen
und breiten darüber gegrübelt werden müßte. Auch wenn dieser
Pfad nicht ins Glück mündet — hat das Herz einmal gesprochen,
von dessen Schlag alles Wert oder Unwert empfängt, dann gibt
es für eine Frau oder ein Mädel, die der Sturm ihrer Gefühle
jagt, keine menschlich zweifelhaften Lösungen mehr. Bedenkenlos
und frei von jeglicher mittelbaren Erwägung fällt die Ent¬
scheidung, gegründet einzig und allein auf das, was der Mensch
für recht und anständig hält. Dieser wäre nicht lebensfähig,
müßte er in seinem Allerpersönlichsten lügen und unter der Last
einer elementaren Unwahrheit weitervegetieren.
Von diesen Gedanken erfüllt, die das Wesen der im Leben,
nicht in Operetten und in Filmen vorkommenden Wienerin
auslösen, lese man einmal die wienerischen Griechenstücke
Grillparzers. Das empfängliche und empfindliche Ohr wird trotz
gebundener Sprache bald heraushören, wes Landes die Leute
sind, die da in Jamben plauschen, wie ihnen der wienerische
Schnabel gewachsen ist. Bühne und Wirklichkeit, in ewigem Zu¬
und Ineinanderspiel begriffen, steigern einander im Falle der
wienerischen Frau zu einmaligen, unvergleichlichen Aus¬
prägungen, als deren schönstes Kennzeichen die Grazie des
Herzens anzusehen ist.
Die weniger berühmten Zeitgenossen Raimunds haben
gleichfalls reizende Bilder der Wienerin gemalt, im Theaterstück
es ist
sowohl wie in der Erzählung. Dabei fällt es auf
weder der erste noch der letzte Fall —, daß das Leben sich An¬
regungen von der Bühne holt. Die Frau im Parkett richtet sich
nach dem Vorbild auf der Szene, die erhöhte beeinflußt die ein¬
fache Wirklichkeit.
Der ewige Wiener Typus.
Das „süße Mädel“ begann seine Weltkarriere, als Artur
Schnitzler die Bezeichnung für die junge Wienerin gefunden hatte,
obwohl sie längst vorher auf der Welt gewesen war und
Schlagermitzis auf der Bühne wie im Leben zu Dutzenden
herumliefen. Ein Dichter aber mußte kommen, diesen Geschöpfen
tief ins Herz blicken und sie mit allen ihren guten und schlechten
Eigenschaften lieben. Weil er dies mit der ganzen Zärtlichkeit
seiner Natur tat, fand er auch den wahren Namen für die
Annies, Christinen und Mitzis.
Es ist ein gründlicher Irrtum, zu glauben, die Wienerin
von der geschilderten Art sei ausgestorben. Man muß sich bloß
einmal die Mühe machen und ein wenig beobachten — auf der
Straße wie im Theater. Seltsame Entdeckungen harren unser
Die Wienerin trägt sich zwar jetzt anders; die veränderte Zeit
brachte naturgemäß auch einen anderen Menschen mit früher
unvorstellbaren Wünschen, Ansprüchen und Meinungen hervor
aber der Typus lebt ungeändert fort, lebt genau so, wie er in
den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren usw. des ver¬
flossenen Jahrhunderts vorhanden war — dies= und jenseits der
Rampe.
Die Wienerin, wie wir sie aus den dichterischen Ge¬
staltungen der früheren Zeit kennen, ist die reizende Ahnfrau
ihrer heutigen Enkelinnen und Urenkelinnen. Abgesehen von
äußerlichen Bedingtheiten, deren Ursachen in Zeit und Mode
liegen, hat sich deren Wesen im Vergleich zu dem der Vorfahren
kaum sehr verändert. Die junge Wienerin von heute mag viel¬
leicht durch die Ungunst der Verhältnisse härter und — mi߬
trauischer geworden sein, aber die Charaktereigenschaften, auf die
es ankommt, weist sie ebenso auf wie ihre Altvordern; wir
brauchen diese nicht erst aufzuzählen, sie sind zur Genüge bekannt.
Gibt es noch wienerische Schauspielerinnen?
Sind noch Schauspielerinnen vorhanden, die wie ihre
Kolleginnen von einst Wiener Mädeln (vor und nach der Ver¬
leihung des netten Eigenschaftswortes) verkörpert haben, heute und Herzensklugheit Alma Seidlers, deren Gestalten sich allem
als schöpferische Erneuerer der besonderen Tradition an= Echten beugen, alles Zweifelhafte aber nicht ganz ernst nehmen
gesprochen werden dürfen? Mit den Stücken, freilich, die das be¬ die erhafte Kraft von Paula Wesselys Wesen und Wort, die
weisen könnten, ist es jetzt nicht gerade gut bestellt. Aber die
Gefühl
Gestalt umzusetzen vermag, das beschwingte
Wendung zum Volksstück, jetzt überall wahrnehmbar, läßt gerad
Temperament und die erfrischende Geradheit Christl Mardayns,
in dieser Hinsicht manches erhoffen; wenn das entsprechende die naive Grazie und herzige Keckheit der Friedl Czepa oder die
Werk, das nicht bestellt werden, sondern nur pflanzenhaft ent¬
saftige Drolerie Lotte Langs
wer darf angesichts dieser
stehen kann, einmal da sein wird, dann sind — ohne viel Dazu frischen Farben, deren Glanz allabendlich unser Publikum ent¬
tun — plötzlich auch alle anderen Elemente vorhanden, die ihm zückt, behaupten, die Wienerin, wie sie in der Vorstellung „füßes
zum Durchbruch verhelfen. Abgesehen davon jedoch besitzen wir Mädl“ festgehalten ist, gäbe es nicht mehr? In allen diesen
glücklicherweise eine Fülle bezaubernder Wienerischer Schau¬
Schauspielerinnen, zu denen noch manche andere gehört, lebt das
spielerinnen, von denen jede eine besondere Note besitzt,
weibliche Element der Stadt in besonderer Variation, jede von
wiederum nichts anderes ist als Ausdruck der besonderen Natur ihnen bedeutet eine nicht zu missende Phantasie auf das un¬
jener Art Frauen, die hierzulande wachsen. Die herbe Anmut erschöpfliche Thema: Wienerin.