VII, Verschiedenes 13, 1936 undatiert, Seite 57

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Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLINNA
Telefon: Norden 3051
Ausschnitt aus:
Brandenburger Zeitung
40.
„Verwirrung der Gefühle
Wien ist nicht allein die Heimat der Psychoanalyse, der
Sitz ihres Schöpfers Professor Sigmund Frend. Auch die
dichterische Darstellung der Wiener Autoren wählt mit Vor¬
liebe die geheimnisvollen Tiefen und Entartungen des
Seelenlebens und sucht sie mit psychoanalytischen Methoden
zu entschleiern. Wir wissen, mit welcher Liebe und Sorgfalt
der Arzt Artur Schnitzler den dunklen Untergründen
der menschlichen Gefühlswert, den Triebfedern unseres
Denkens und Handelns und den Reaktionen unseres Nerven¬
systems nachgeht. Unter den jüngeren Dichtern, die diese
Kunst noch vertieft und verfeinert haben, steht Stefan
Zweig mit an erster Stelle. Mit reifster Weltbetrachtung
und Menschenkenntnis durchschaut und zergliedert er die
psychologischen Voraussetzungen alles menschlichen und ge¬
sellschaftlichen Geschehens und vermag auch die „Verwirrung
der Gefühle, die der oberflächliche Bürger schnellfertig als
Abnormität oder Perversität abzutun pflegt, in ihrer Natur¬
bedingtheit und ihrem tragischen Zwange so einleuchtend
und zartfühlend zu erklären, daß man gneigt sein möchte,
ihn geradezu als Meister der psychoanalytischen Novelle zu
bezeichnen.
Seinen früher erschienenen Novellenbänden „Erstes
Erlebnis“ und „Amok“ läßt der Dichter jetzt im Insel¬
Verlag in Leipzig einen neuen Novellenband folgen, der
ebenso wie die größte und bedeutsamste der drei darin ent¬
haltenen Novellen den bezeichnenden Titel „Verwirrung der
Gefühle trägt. In der Novelle „Vierundzwanzig Stunden
aus dem Leben einer Frau“ ist ganz unpathetisch und un¬
sentimental, aber mit wärmster Anteilnahme, über¬
zeugendster Echtheit und packendster Steigerung das buch¬
stäblich ganze vierundzwanzig Stunden währende Erlebnis
einer Frau geschildert, das einem sonst inhaltlosen, nüchter¬
nen und unbefriedigten Alltagsleben die stärksten, nach¬
haltigsten Erschütterungen verleiht. Eine verhältnismäßig
früh verwitwete Frau sucht einen jungen Menschen, der der
Spielleidenschaft verfallen ist und in Monte Carlo den
letzten Pfennig einer unrechtmäßig erworbenen Barschaft
eingebüßt hat, durch den Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit
vom Selbstmord zurückzuhalten, und muß schließlich er¬
fahren, daß ihr Opfer vergebens geblieben ist. Jede Einzel¬
heit dieses fesselnden Verlaufs ist mit überraschender Treff¬
sicherheit, Lebendigkeit und psychologischer Konsequenz ge¬
staltet. In der Novelle „Untergang eines Herzens“ ist der
seelische, geistige und schließlich auch körperliche Verfall eines
Mannes geschildert, der sich aus einfachen Verhältnissen zu
großer Wohlhabenheit und gesellschaftlicher Geltung empor¬
gearbeitet hat und die allmähliche völlige Entfremdung von
seiner an Luxus und Genießerdasein verwöhnten Frau und
Tochter erleben muß — also ein auch sozial überaus er¬
giebiges Thema. Die Begleitumstände wirken hier teil¬
weise konstruiert, aber die unerbittliche Tragik des Mannes
ist auch in dieser Novelle ungemein eindrucksvoll dargestellt.
Den Hauptteil des Buches nimmt die auch in ihrer
Problematik eigenartigste Novelle „Verwirrung der Ge¬
fühle ein. In ihrem Mittelpunkt steht die starke geistige
Freundschaft zwischen einem Universitätsprofessor und einem
jungen Studenten, deren Leidenschaft sich zuletzt aus einer
unüberwindlichen homose nellen Neigung des verehrten
Lehrers erklärt. Man wird nicht leicht in der Literatur eine
von so tiefen, gütevollem Verstehen getragene und dabei
so kensche Veranschaulichung des zerstörenden Verhängnisses
und des übermächtigen Rausches dieser wahrhaften „Ver¬
wirrung der Gefühle finden, wie sie Stefan Zweig hier
gibt. Die Klarheit und dramatische Wucht von Sprache und
künstlerischem Aufbau tragen dazu bei, die Lektüre dieses
Buches zu einem lange nachhaltenden Erlebnis zu machen.
Telephon 12801
Alex. Weigls Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
„OBSERVER
I. österr. behördl. konz. Bureau für Zeitungsberichte u. Personalnachrichten
Wien, I., Concordiaplatz 4.
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(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Aussent aus Kikerik, Wien
vom

Aufreizung zum Menschenhaffe.
Am 16. d. M. wurde im k. k. Hof=Burgtheater zu
Ehren des Preßkongresses ein Stück von Schnitzler
gegeben, dem der „Misanthrop von Molière folgte. Der
Darsteller des Misanthropen wurde während des ganzen
ersten Stückes im Zuschauerraume bemerkt.