VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 41

13. Miscellanos
fähigen Gesellschaft hat die Produktion nicht
im mindesten gereizt oder befruchtet. Man
spielt dort, was man ebensogut wo anders
spielen kann; die eigensinnigen Dichter nahmen
keine Fühlung.
Berlin lebt sehr schnell; wenn es eine
Formel für ein wirkliches oder angebliches Be¬
dürfnis gefunden hat, so braucht es nicht immer
zehn Jahre, um mit derselben Bestimmtheit
das Gegenteil zu verlangen. Man kann Rein¬
hardt nur würdigen, wenn man den stets An¬
geregten, unermüdlich Ueberzeugten
Symptom, als Exponenten der wechselnden
dürfnisse auffaßt. Damals hieß es:
viele
Theater für verschiedene Bestimmungen
ferenziert. Heute heißt es: ein Theater
Volk, ein Gott. Fünftausend müssen es minde¬
stens sein, unten die Bankiers, oben die
Arbeiter und Studenten; die Masse soll sich
als Masse genießen, und sie soll vor allem durch
ihre Gewalt, durch ihre Einigkeit inspirieren
Der griechische Traum ist über uns gekommen,
das Theater wird wieder zu einem großen um¬
fassenden Fest, zu einer ergreifenden Kult¬
handlung, und der dionysische Taumel wird
aufgefordert, sich auf die Versammlung herab¬
zu stürzen.
Wo gibt es heute solchen Taumel, einende
Ergriffenheit und Begierde? Am vorletzten
Sonntag, als die Sonne noch nicht aufge¬
gangen war, fuhr ich zum Flugplatz Johannis¬
thal hinaus, zwischen Tausenden von Auto¬
mobilen, zwischen Zehntausenden von Fu߬
gängern und Radfahrern, die sich durch Staub
und Benzingestank hindurcharbeiteten
die alle dasselbe Gesicht hatten. Hier war Zu¬
sammenhang zwischen oben und unten, arm
und reich, dieselbe sinnliche Erregung
und
Spannung, dieselbe wollüstige Bereitschaft,
in einem allgemeinen Spasmus auszulösen.
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wenn der moderne Bodenmensch sich vom Boden
glücklich erhebt. Die Masse kennt heute ein
eigenes Glück, und dazu bedarf es nicht einmal
besonderer Veranstaltungen. Die Großstadt
selbst ist zum Theater geworden, zu einem amü¬
santen Ungeheuer, das uns mit täglichen und
stündlichen Sensationen unterhält.
Das
öffentliche Leben strotzt von den Wundern der
Technik, dehnt sich zu rauschvollen Dimensionen;
die Häuser werden immer höher, die Straßen
breiter, alle Verkehrsmittel gewaltiger, es
donnert unter der Erde, es braust in den
Lüften. Warum soll allein das Theater von
diesem Wachstum, von diesem Rhythmus, der
nimmer nachläßt, sich ausschließen? Unten
Fünfhundert und oben Fünftausend, wenn es
nicht mehr sein können; in der Arena Lärm
und Bewegung als präzise Funktion vom
Scheinwerfer verklärt, im Amphitheater eine
dunkle Masse in stumpfer Erregung: auch das
ist Haschisch fürs Volk, dionysischer Taumel.
Das Theater soll wieder werden, was es
gewesen ist, die Kultstätte der großen Zere¬
monie, und den humanistisch gebildeten Ober¬
bürgermeistern, die sich für Festspielhäuser be¬
geistern, schwebt gewiß etwas vor von bekränzten
Männern und Frauen, die schön gewandet im
Zuge schreiten und patriotische Lieder singen,
da man sich über die religiösen leider nicht mehr
einigen kann. In diesem Amphitheater, das auf
einem Hügel stehen muß wie Wagners Bai¬
reuther Haus, kann man die griechischen Tra¬
giker bestimmt, kann man auch zur Not einiges
von Shakespeare, Goethe, Schiller geben. Aber
was dann? Reinhardt sieht schon weiter, und
die optima fides, die man ihm immer zuschrei¬
ben muß, beschwingt seine Hoffnungen. Sobald
die Klassiker für die Arena arrondiert sind,
rechnet man auf den Gladiatorenmut unseren
heutigen Dichter. Die Hauptmann und Hof¬
mannsthal sind bereits ersucht worden, gro߬
zügig und volksmäßig zu empfinden; man rech¬
net auf die fruchtbare Begeisterung, die von der
festlich harrenden Menge ausgehen muß. Unser
Dramatiker, denen Reinhardt ein Volk bietet,
um sie auf die bekannte Linie der Großzügig¬
keit, der festspielmäßigen Beredsamkeit zu
bringen, werden, wie ich fürchte, sehr verlegene
Gesichter machen. Es wachsen die Räume, es
dehnt sich das Haus. Die Bühne wandelt sich
und glaubt sie damit auch wandeln zu können.
Als sie sich zu den Kammerspielen und anderen
architektonischen Bijous verkleinerte, wurden die
Dichter aufgefordert, intim, graziös und plau¬
derhaft zu werden. Kaum hatten sie recht er
folglos versucht, sich klein und niedlich zu
machen, da will die öffentliche Begeisterung sie
auf ihrem Prokrustesbett schon wieder in die
Länge ziehen. Und dieses ist das letzte und
schwerste Mißverständnis; man bildet sich ein
die gegenwärtige Literatur durch ein unge¬
heures Angebot an Mitteln und Aussichten in
eine fruchtbare Raserei versetzen zu können.
Vulgus schenkt ihr seine Seele zur Bearbeitung;
diese armen Dichter könnten es so viel besse¬
haben. Was versperren sie sich vor dem Gemein¬
sinn in ihren Eigensinn und ihre Einsamkeit
was jammern sie um den entflohenen Mythus,
der die alten Dichter, zugleich Seher und Weise,
emportrug. Hier auf diesen Bänken wispert der
Mythus rund um, hier wartet ein Volk, hier
flügelt der Genius, hier atmet die Begeisterung.
Sie brauchen nur das Dichterwort auszu¬
sprechen, und alles Sehnen hat seine Gestalt,
seine Vollendung gefunden. Die Dichter lassen
ihre Wangen vor verlangender Scham glühen;
sie werden etwas unbestimmt Feierliches emp¬
finden, sich klingen fühlen, als ob sie selbst