VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 44

13. Miscellaneous
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Deutschland und Österreich seit der Gründung des Neuen Reiches.
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viele Deutsche, und gewiß nicht die schlechtesten, den schmerzlichen Schnitt
durch den deutschen Nationalkörper nicht ertragen konnten und darum zu den
heißesten Gegnern Bismarcks sich gesellten; wir fühlen es den Süddeutschen
nach, daß gerade sie von ihren nächsten Stammesvettern in Österreich und
den Alpenländern sich nicht losreißen lassen wollten; wir haben ein volles
Verständnis dafür gewonnen, daß die deutschen Katholiken in ihrer Mehrheit
sich leidenschaftlich gegen die Vornahme eines Schnittes sträubten, dessen
blutende Wundfläche in erster Linie durch den katholischen Teil deutschen
Volkstums lief, ihre kirchlich-kulturelle Einheit und ihre reale Machtstellung
traf und verletzte. Vor allem aber fühlen wir mit dem Trennungsschmerze
der Deutsch=österreicher selbst, dieser Märtyrer unseres Einigungskampfes,
von dessen Früchten das Land der Babenberger und der Habsburger, das
Land Walthers von der Vogelweide und Mozarts, von nun an für immer
ausgeschlossen sein sollte. Und doch ist das Schwerste verwunden. Die Gro߬
deutschen von ehedem sind hüben und drüben versöhnt, weil sie die Anver¬
meidlichkeit der Trennung erkannten, und die Kleindeutschen von ehedem
fühlen längst wieder in sich den Schlag eines großdeutschen Herzens. Fürsten
und Völker haben sich darin gefunden. Noch im Jahre 1863 hatte Kaiser
Franz Josef die deutschen Fürsten ohne den Hohenzollern im „Römer“ zu
Frankfurt um sich vereint, um das rollende Rad der Geschichte rückwärts zu
wälzen und noch einmal in Germanien den Doppeladler, an Ehren und an
Siegen reich, wieder aufzurichten. Im Jahre 1908 aber sind die reichs¬
deutschen Fürsten unter Führung des Hohenzollernkaisers demselben Franz
Josef genaht, um ihm in Wien am Tage seines sechzigjährigen Regierungs¬
jubiläums persönlich zu huldigen — nur ein äußerlich hesischer Vorgang
freilich, ohne politische Bedeutung des Augenblicks, und doch argwöhnisch
umlauert von den nichtdeutschen Nationalitäten Österreichs; denn der tiefere
Sinn dieses Vorganges zeigte nicht nur den erschütternden weltgeschichtlichen
Umschwung eines Zeitalters menschlich überwunden, sondern er verriet der
Welt mit symbolischer Eindruckskraft, daß die staatliche Trennung von einst
zahllose unsichtbare Bande nicht hatte zerschneiden können.
Was an solchen unsichtbaren Banden zwischen Deutschen und Deutsch¬
Österreichern vorhanden ist, das wissen und erfahren wir alle Tage auf den
Gebieten des geistigen Lebens, wo die zartesten Keime und Blüten nationalen
Daseins sich enthüllen: in Kunst, Literatur und Wissenschaft sind wir trotz¬
alledem ein Volk geblieben. Dankbar empfinden wir immer von neuem den
Segen, daß die deutsche Kulturnation sich nicht deckt mit der deutschen
Staatsnation, sondern weiter reicht und ein unsterbliches Leben in sich selber
führt. Eine große deutsche Literatur blüht auf dem Boden unserer Sprache
und unseres Volkstums, und sie weiß nichts von der politischen Trennung
der Staaten. Mit Stolz zählen wir die deutsch=österreichischen Dichter zu den
unsrigen, und es scheint eher, als ob das Gefühl dieser Zusammengehörigkeit
sich verstärkte, denn daß es sich lockern wollte. Denn als der Größte von
ihnen, Franz Grillparzer, in den Zeiten des Deutschen Bundes seinen bitteren
Leidensweg unter dem lähmenden Drucke Altösterreichs ging, und damit
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