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die allgemeinen Marktvorschriften erleichtert
werden.
Brüssel, 1. September.
Im Industriezentrum wächst sich die Erregung
der Hausfrauen zu einem planmäßigen
Boykott der Bauern aus, die Milch, Eien
und Butter nicht zu den vorgeschriebenen Preisen
abgeben wollen. Die Polizei verhinderte heute
die Zufuhr zu den Märkten von La Louvière und
Hondeng, um Zusammenstöße mit den Haus¬
frauen zu vermeiden, die aufrührerische Reden
halten. Die Bewegung richtet sich auch gegen die
Fleischer, die wegen der herrschenden Maul= und
Klauenseuche sich in unangenehmer Lage be¬
finden.
Die Wienerin.
Von Ernst Klein.
Man tut der Wienerin im allgemeinen
draußen in der Welt bitter unrecht. Man hält
sie für ein leichtlebiges, wohl auch ein bißchen
leichtsinniges Geschöpf, das sich über Haushal¬
tungssorgen wenig den Kopf zerbricht, sondern
nur eine oberste Lebenspflicht kennt — die, sich
zu amüsieren. Daran sind Schnitzler und Dör¬
mann schuld, die den Mythus vom süßen Mädel
geschaffen und literatursalonfähig gemacht haben.
Das Süße Mädel, das nichts anderes als füß ist,
existiert aber ebenso in Paris oder Berlin wie in
Wien. Hier wie dort gibt es junge, lebensfrohe
Geschöpfe, die aus der Liebe kein Geschäft machen.
Die glücklich sind, wenn sie Sonntags mit dem
Geliebten wo hinausfahren können. Nach Halen¬
see. Nach Passy — nach Hütteldorf im Wiener
Wald. Wo ein bißchen Grün, ein bißchen Musik,
ein bißchen Tanz ist. Die Mimi Zinson ist die
Schwester der Mizzis und Pepis und Poldis,
Unterscheidet sich von ihnen nur durch die Sprache.
Liebt, lacht und leidet aber sonst ganz genau so¬
Später allerdings gehen die Wege der
Schwestern vielleicht auseinander. Das hängt
aber mit dem Milieu zusammen, in dem sie leben.
Wien ist keine Fremdenstadt wie Berlin und
Paris, und das Geld rollt hier nicht so wie an
der Spree und an der Seine. Die internationale
Verführung lockt hier nicht in dem Maße, und
der schöne Stand der Lebedame ist an der Donau
nicht sehr stark vertreten. Der Fremde, der zum
erstenmal ins Ronacher kommt oder das Rennen
in der Freudenau besucht, ist erstaunt darüber,
daß er so wenig Königinnen der Demimonde
sieht. Er zuckt bedauernd die Achseln und fällt
ein vernichtendes Urteil: Wien ist keine Frem¬
denstadt, es hat keine Demimonde.
Bei Licht betrachtet ist das eigentlich ein Lob.
denn die Wienerin erhält damit die Sittennote
eins. Aber ich möchte sie doch nicht auf 5ten
der anderen herausstreichen, denn schließlich ist es
nicht ihr Verdienst, daß die Verführung anders¬
wo stärker ist. Wien hat die Tugend auch nicht
gerade gepachtet, nur das vergnügungstüchtige
Laster macht sich hier nicht so breit. Liegt so im
Charakter des Wieners, der Gemütlichkeit und Be¬
haglichkeit dem rauschenden, reißenden Tollen
vorzieht. Und viel Geld darfes auch nicht kosten,
denn der Wiener hat nic
viel Mammon wie
der Berliner und der ariser. Das ist
auch der wahre Grund, warum des uns die
Nachtlokale absolut nicht gedeihen wollen. Diese
nach Berliner und Pariser Muster eingerichteten
Stätten des Vergnügens führen in Wien alle ein
Dasein von heut auf morgen. Machen gute Ge¬
schäfte nur, solange sie den Reiz der Neuheit
haben. Mehr als zwei bis drei Winter hält es
keines von ihnen aus. Das eine schließt zu, das
andere macht auf. Der Name wechselt, vielleicht
auch der Wirt — aber die Huldinnen, die das
Lokal durch ihre Gegenwart verschönen, bleiben
immer dieselben. Hie und da taucht einmal ein
neues Gesicht unter ihnen aus
Das Wiener Mädel hat eben andere Ziele.
Solange es jung i., will es sein Leben genießen,
gerade so wie die anderen auch. Es versetzt sich
seinen Genuß nur mit mehr Sentimentalität als
etwa die Berlinerin, denn Wien ist die Stadt der
Gefühle. Es läßt sich so leicht rühren und lacht
gern unter Tränen. Kahlenbergstimmung. Tief
unten die Stadt mit ihren tausenden Lichtern,
weiter hinaus die Donau, deren Wasser im Mond¬
licht silbern schimmert. Und die Musik spielt,
und im Wald ist so ein geheimnisvolles Flüstern
— und sie singt: „Mutter, weißt du, was
träumt habe? I hab' in 'n Himmel einig sehn.
Und ist glücklich.
Wenn dann der Leutnant in eine andere Gar¬
nison versetzt wird, oder der Student sein letztes
Examen gemacht hat, dann ist halt das Idyll vor¬
über. „A bissel a Lieb — a bissel a Treu
A bissel a Falschheit war dabei." — Ein Zweiter