13.
Miscellanes
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leicht ist nicht immer genügend be¬
achtet worden, daß die Unterbrechung
der Überlieferung auf vielen Ge¬
bieten unsrer Ausdruckskultur in
dem Auseinanderweichen dieser bei¬
den ihre Ursache hat. Volkskultur ist
niemals dort möglich, wo einer dün¬
nen Schicht „Intellektueller“ eine in
wirtschaftlichen Nöten gebundene
Masse gegenübersteht. Tragen
kann doch eben nur diese oft ge¬
ring geschätzte Masse.
Johannes Buschmann
Auf Subskription
unsre moderne Kultur entwickelt
sich wissenschaftlich. Sie macht
es ihren dereinstigen Geschichts¬
schreibern leichter, als die boshafte
Schöpfung, die den gelehrten Dar¬
winisten zum Trotz immer gerade
ihre interessantesten Stellen ver¬
finstert und dadurch unfehlbare
Forscher zu unfehlbar blamablen
Hypothesen verleitet. Unsrer mo¬
dernen Kultur fehlt kein Zwischen¬
glied. Hat sie sich schon einmal
im Abermut so weit vergessen,
sprunghaft vorwärts zu schreiten,
so holt sie später das Versäumte
brav nach. Vor ungefähr zwanzig
oder fünfundzwanzig Jahren gab
es in Deutschland eine sogenannte
anständige Literatur und eine un¬
anständige. Die anständige wurde
gedruckt, die unanständige hand¬
schriftlich verbreitet. Die anständige
war in Buchhandlungen zu kaufen,
oder — man soll in einer wissen¬
schaftlichen Untersuchung ehrlich
sein — in Leihbibliotheken zu bor¬
gen. Die unanständige wurde einem
gelegentlich von irgendwem heim¬
lich zugesteckt. Sie sah schmierig
aus, wie es ihrem Inhalte entsprach,
und wenn man sie las, so hatte man
Herzklopfen und schämte sich. In
jenen grauen Zeiten, vor fünfund¬
zwanzig Jahren, gingen dunkle
Sagen um, wonach es in Paris,
2. Juliheft 1908
Pest und Wien schlimme Zeitungen
und Bücher gäbe, mit sehr aus¬
gezogenen Bildern und Mikosch¬
witzen. Die Sieger von Sedan
kannten dergleichen in ihrem eige¬
nen Reiche noch nicht. Es ging
ja vielleicht auch so. Inzwischen
hat sich, nach einem bösen Worte
Melchior de Vogües, das Rad
gedreht. Die klaffende Lücke zwi¬
schen anständiger und unanständiger
Literatur ist hierzulande ausgefüllt
worden: Heute wird alles gedruckt,
und man kann für wenige Pfennige
Schmutz genug kaufen, um bis an
sein Ende genug davon zu haben.
Schon marschiert Deutschland, was
die „unbefangene Kunst" anbelangt,
glorreich an der Spitze der Zivili¬
sation. Eine ad hoc aufgemachte
Statistik lehrt, daß drei Fünftel
aller in Europa verkauften unsitt¬
lichen Ansichtspostkarten aus dem
Lande kommen, wo Sittlichkeit im
Kreise froher Menschen wohnt.
Nicht lange mehr, und wir sind
vielleicht auch für unbefangene Lite¬
ratur die neidlos anerkannten
Rekordträger.
Es hat keinen Zweck, den Tat¬
sachen gegenüber die Augen zu
verschließen und sich, wie's viele
gute Leute tun, mit etlichen milden
Redensarten über das Grauen hin¬
wegzusetzen. Ich meine vielmehr,
allen, denen wirklich an der
Freiheit der Kunst gelegen ist,
allen ehrlichen Freunden deutschen
Schrifttums erwächst allmählich
die Pflicht, Dämme wider die her¬
einbrechende Kotflut aufzuwerfen.
Wir, die kein Redlicher als Dunkel¬
männer zu verschreien wagen wird,
sind berufen, den Kampf aufzu¬
nehmen, ehe denn die schroffe Re¬
aktion hereinbricht, die sonst un¬
vermeidlich ist. Kein Staat, kein
Volk kann sich auf die Dauer die
Vergiftung der öffentlichen Brunnen
gefallen lassen. Kann's dulden, daß
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leicht ist nicht immer genügend be¬
achtet worden, daß die Unterbrechung
der Überlieferung auf vielen Ge¬
bieten unsrer Ausdruckskultur in
dem Auseinanderweichen dieser bei¬
den ihre Ursache hat. Volkskultur ist
niemals dort möglich, wo einer dün¬
nen Schicht „Intellektueller“ eine in
wirtschaftlichen Nöten gebundene
Masse gegenübersteht. Tragen
kann doch eben nur diese oft ge¬
ring geschätzte Masse.
Johannes Buschmann
Auf Subskription
unsre moderne Kultur entwickelt
sich wissenschaftlich. Sie macht
es ihren dereinstigen Geschichts¬
schreibern leichter, als die boshafte
Schöpfung, die den gelehrten Dar¬
winisten zum Trotz immer gerade
ihre interessantesten Stellen ver¬
finstert und dadurch unfehlbare
Forscher zu unfehlbar blamablen
Hypothesen verleitet. Unsrer mo¬
dernen Kultur fehlt kein Zwischen¬
glied. Hat sie sich schon einmal
im Abermut so weit vergessen,
sprunghaft vorwärts zu schreiten,
so holt sie später das Versäumte
brav nach. Vor ungefähr zwanzig
oder fünfundzwanzig Jahren gab
es in Deutschland eine sogenannte
anständige Literatur und eine un¬
anständige. Die anständige wurde
gedruckt, die unanständige hand¬
schriftlich verbreitet. Die anständige
war in Buchhandlungen zu kaufen,
oder — man soll in einer wissen¬
schaftlichen Untersuchung ehrlich
sein — in Leihbibliotheken zu bor¬
gen. Die unanständige wurde einem
gelegentlich von irgendwem heim¬
lich zugesteckt. Sie sah schmierig
aus, wie es ihrem Inhalte entsprach,
und wenn man sie las, so hatte man
Herzklopfen und schämte sich. In
jenen grauen Zeiten, vor fünfund¬
zwanzig Jahren, gingen dunkle
Sagen um, wonach es in Paris,
2. Juliheft 1908
Pest und Wien schlimme Zeitungen
und Bücher gäbe, mit sehr aus¬
gezogenen Bildern und Mikosch¬
witzen. Die Sieger von Sedan
kannten dergleichen in ihrem eige¬
nen Reiche noch nicht. Es ging
ja vielleicht auch so. Inzwischen
hat sich, nach einem bösen Worte
Melchior de Vogües, das Rad
gedreht. Die klaffende Lücke zwi¬
schen anständiger und unanständiger
Literatur ist hierzulande ausgefüllt
worden: Heute wird alles gedruckt,
und man kann für wenige Pfennige
Schmutz genug kaufen, um bis an
sein Ende genug davon zu haben.
Schon marschiert Deutschland, was
die „unbefangene Kunst" anbelangt,
glorreich an der Spitze der Zivili¬
sation. Eine ad hoc aufgemachte
Statistik lehrt, daß drei Fünftel
aller in Europa verkauften unsitt¬
lichen Ansichtspostkarten aus dem
Lande kommen, wo Sittlichkeit im
Kreise froher Menschen wohnt.
Nicht lange mehr, und wir sind
vielleicht auch für unbefangene Lite¬
ratur die neidlos anerkannten
Rekordträger.
Es hat keinen Zweck, den Tat¬
sachen gegenüber die Augen zu
verschließen und sich, wie's viele
gute Leute tun, mit etlichen milden
Redensarten über das Grauen hin¬
wegzusetzen. Ich meine vielmehr,
allen, denen wirklich an der
Freiheit der Kunst gelegen ist,
allen ehrlichen Freunden deutschen
Schrifttums erwächst allmählich
die Pflicht, Dämme wider die her¬
einbrechende Kotflut aufzuwerfen.
Wir, die kein Redlicher als Dunkel¬
männer zu verschreien wagen wird,
sind berufen, den Kampf aufzu¬
nehmen, ehe denn die schroffe Re¬
aktion hereinbricht, die sonst un¬
vermeidlich ist. Kein Staat, kein
Volk kann sich auf die Dauer die
Vergiftung der öffentlichen Brunnen
gefallen lassen. Kann's dulden, daß
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