VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 72

13.
Miscellaneous
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ihnen die Feinde der Versuchung
als Mucker, Pietisten oder Kunst¬
knebeler „brandmarkt, und sofort
hat er das ganze Heer der ewig
Gedankenlosen auf seiner Seite.
Dem Terror vermögen sich nur
wenige Entschlossene und Aufrechte
zu entziehen; er ist so stark,
daß selbst die Gerichte nicht wider
den Stachel zu löken wagen. Einige
Freisprechungen der letzten Monate
sind verblüffend und niederdrückend
zugleich.
Dem milden Gesetz und den nach¬
sichtigen Richtern noch überdies ein
Schnippchen zu schlagen, sind die
Privatdrucke, der Vertrieb porno¬
graphischer Werke auf Subskription
erfunden worden. Wessen Name
in irgendeinem besseren Adreßbuch
steht oder wen die Unternehmer
in dringendem Verdacht der mit
Geldbesitz verbundenen Liebhaberei
für Unreinlichkeit haben, den über¬
schütten sie mit ihren Einladungen.
Fast durchweg wird Schund an¬
geboten, an dem hervorragend nur
die geforderten Preise sind: Mk. 15
für das broschierte Buch, Mk. 20
für das gebundene können als Nor¬
malsätze gelten. So hübsche Profite
springen bei dem Geschäft heraus,
daß sich immer neue Kräfte hinein¬
drängen. Nachdem man ein paar
Jahre lang ausschließlich „vergrif¬
fene Meisterwerke in Neudrucken
angepriesen hat, ist man jetzt dabei,
nicht veröffentlichte Manuskripte
von Wilde, Maupassant, Musset
und anderen herauszugeben. Wilde,
Maupassant und Musset müssen's
eben leiden; irgendein Strauchdieb
bedient sich ihrer Firma, um seinen
Unflat in tausend numerierten
Exemplaren“ abzulagern. Die Aar¬
ren, die auf den plumpen Köder
anbeißen, verdienten ein vergnügtes
Lachen, nichts mehr, wenn sie sich
nicht fast durchweg zu den Ge¬
bildeten, ja zu den Sachverständigen
2. Juliheft 1908
zählten und ihre Neigung zum
Schmutz Bibliophilie nennten. Sie
verstärken das Heer der nichts als
aufgeklärten Kunstfreunde und tun,
was sie können, um die Verlotterung
zu fördern.
Der erotischen Dichtung, dem
Rosengewinde, das sich aus den
Tagen Salomos in unsre Zeit hin¬
überschlingt, kann nur ein ver¬
stiegener Eiferer zu nahe treten.
Jahrtausendelang hat die glänzende
und klare Tausende erfreut, und
nicht von ihr ist die Schlammflut
ausgegangen. Sie hat keinen An¬
laß, sich zu verkriechen und den
Weg der Subskription, des Ge¬
heimdruckes, zu beschreiten. Sie
protzt auch nicht mit Beschlagnah¬
mungen und gerichtlichen Freispre¬
chungen, und man findet sie nicht
in sämtlichen Witzblättern, neben
orientalischen Pillen und articles
de Paris, empfohlen. Schon dadurch
unterscheidet sie sich, selbst für den
Kurzsichtigen, von den Waren der
Unzuchtshändler. Es wäre so leicht
reiner Tisch zu machen. Nichts
mangelt als der Mut, gegen die
Geschäftsleute und die Spekulanten
vorzugehen. Seien wir doch sicher,
daß der wider sie geführte Schlag
keinen Poeten treffen wird. So
wenig eine dichterische oder künst¬
lerische Begabung geschädigt würde,
wenn die Polizei alle in den Papier¬
läden der Vorstädte ausgelegten Lie¬
besgeschichten von heute einstampfen
ließe.
Richard Nordhausen
Machtstaat, Rechtsstaat,
Kulturstaat
Martin Rade, der Heraus¬
geber der „Christlichen Welt“,
hat in einem kurzen Vortrage auf
dem deutschnationalen Friedenskon¬
greß in Jena versucht, diese drei
Staatsbegriffe herauszuarbeiten
gegen einen vierten, den des Na¬
tionalstaa So wie der Staat