VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 73

13. Miscellaneous
Feuilleton.
Betrachtungen.
Die Vernunft.
Man hat sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, die
Vernunft sei die stärkste Triebkraft im Leben der
Menschheit, weil die Fortschritte, die Erfindungen, die Ent¬
deckungen ihr zu danken sind. Im ganzen Lauf der Ge¬
schichte waren ihr aber andre Kräfte beigesellt, die sich oft
als übergeordnete geltend machten. Der Aberglaube
baute sich eher zehn Tempel, als die Vernunft einen ein¬
zigen. Der Aberglaube hat Göttern und Teufeln Wirklich¬
keit geliehen, Priester verehrt und Heren verbrannt, wäh¬
rend die Vernunft sich auf bescheidene Selbstverteidigung¬
beschränkte ... Weil wir der Vernunft alles, was gut und
nützlich ist, verdanken, von den Zündhölzchen bis zur draht¬
losen Telegraphie und dem elektrischen Licht, ist man ge¬
neigt, die Unvernunft zu unterschätzen. Trotz aller
Siege der Vernunft aber muß man fragen, ob die Unver¬
nunft nicht noch mehr vermag.
Natürliche Moral.
Jeder weiß: begehe ich gewisse Unvorsichtigkeiten oder
Ausschweifungen, so werde ich dafür büßen müssen. Allein
das hat nicht das geringste mit der Moral zu tun. Ob
ich ins Wasser zur Winterszeit springe, um einen Menschen
zu retten, oder ob ich dadurch ins Wasser zur Winterszeit
falle, daß ich einen Menschen hineinstürze, um ihn zu ermor¬
den: die Erkältur, die ich mir zuziehe, und deren Fol¬
gen bleiben ganz die gleichen. Die Natur ist gegen meinen
Man pflegt eine gewisse Na¬
Beweggrund gleichgiltig.
turgerechtigkeit in der Erblichkeit zu erblicken. Gebrechen
und Fehler der Eltern werden ja in gewissen Fällen an den
Kindern heimgesucht. Doch auch hier ist die Gerechtigkeit
nur scheinbar. Ein Vater kann Arme geplündert, Unschul¬
dige verfolgt, seine Freunde betrogen und verraten, die
allerniedrigsten Schändlichkeiten begangen haben, ohne daß
dies die mindeste Spur im Körperbau seiner Kinder hin¬
terließe. Nur darauf kommt es an, daß er seine Gesund¬
heit nicht untergrub ... Gesetzt, der Vater hätte sich bei
Erfüllung seines Berufs oder durch eine heldenmütige,
selbstverleugnende Handlung eine furchtbare Krankheit zu¬
gezogen: die Natur straft das Kind genau so, als wäre das
Uebel die Folge einer Schlechtigkeit... Es gibt also
keine wirkliche Gerechtigkeit in der Natur; und würden wir
ihrem Beispiel folgen, so kämen wir dahin, gleich ihr im
Lebenskampf einzig dem Stärksten, Rücksichtslosesten und
Bestbewaffneten rechtzugeben.
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Das Leben.
Es gibt einen Turm, den wir alle besteigen müssen.
dert Stufen sind es zuhöchst, die hinanführen. Der
Furm ist hohl, und ist man ganz emporgeklettert, so stürzt
man innen hinab und wird zerschmettert. Doch fast nie¬
mand fällt von so hoch oben in die Tiefe. Jeder ersteigt nur
eine gewisse Anzahl Stufen; hat er die ihm bestimmte letzte
erreicht — und niemand weiß im voraus, die wievielte für
ihn die letzte sein wird
— so gibt sie unter seinen Füßen
nach, wird sie zur Luke einer Fallgrube, und er verschwindet.
Er weiß nur nicht, ist es die 20. oder die 63., oder was sie
sonst für eine Nummer hat; doch daß eine davon unter
ihm weichen wird, dessen ist er sicher.
Anfangs steigt sich's leicht, wenn auch langsam. Der
Aufstieg selbst scheint nicht im geringsten beschwerlich, und
bei jedem Schritt bereitet die Aussicht durch die Gucklöcher
des Turmes Vergnügen die Fülle. Alles ist so neu. Der
Blick hängt mit anhaltendem Interesse an Nahem und Fer¬
nem. Und noch so vieles ist zu erwarten. Allmählich aber
verursacht das Steigen größere Beschwerlichkeit, das Auge
wird gleichgültiger gegen die Aussicht, die stets die näm¬
liche zu bleiben scheint, und gleichzeitig hat man das Ge¬
fühl, als verweile man fast nicht auf den einzelnen Stu¬
fen, sondern käme so rasch in die Höhe, als nähme man
mehrere Stufen auf einmal, was doch nie geschehen kann.
So oft jemand, wenn ein Jahr um ist, eine weitere
Stufe erstiegen hat, beglückwünschen ihn die Mitwander¬
daß er noch nicht verschwunden ist. Hat er zehn Stufen
hinter sich und steht vor einem neuen Treppenabsatz, so
werden die Glückwünsche wärmer, und mit jedem Mal stei¬
gert sich die Herzlichkeit, mit der ihm die stets paradoxer
werdende Hoffnung auf eine noch lang währende Fortsetzung
der Wanderung ausgesprochen wird. Der Betreffende fühlt
sich gewöhnlich tief gerührt und gedenkt weder der geringen
Befriedigung, die er bisher empfunden, noch all der Wider¬
wärtigkeiten, die ihm ferner bevorstehen mögen.
So verfliegt den meisten, sogenannt normalen Menschen,
die geistig auf demselben Fleck kleben, das Leben.
In solchen und ähnlichen Betrachtungen würde ich mich
gern noch weiter ergehn — und ich täte es umso lieber, als
ich bestimmt weiß, daß verständnisvolle Leser schon jetzt,
nach diesen wenigen Proben, meinen scharfen Geist, meinen
erlesenen Geschmack, meine poetische Empfindung und mei¬
nen meisterhaften Stil anerkennen werden.
Aber,
aber ...! Ein gewisses Etwas hält mich davon ab!...
Ein plötzliches Gefühl der Unruhe, der Angst! . .
Man
wird mich sofort verstehn, wenn man sich daran erinnert,
wie es kürzlich dem Berliner Kritiker Jacobsohn ergan¬
gen ist. Diesen Mann — welche Ungerechtigkeit! — stellte
man als Plagiator hin. Und warum? Weil er mehrere
Rezensionen geschrieben, die mit mehreren Kunstkritiken aus
mehreren älteren Zeitungs=Jahrgängen wörtlich überein¬
gestimmt hatten. Ja noch mehr: man nahm gar keine Rück¬
sicht auf seine Verteidigung, in der er doch so kräftig ver¬
certe, daß ihm jede Absicht eines Plagiats
und daß, wenn er dies und jenes genau so gesag
Herr Gold schon vor Jahren gesagt hat,
krankhaft überstarkes Gedächtnis daran schuld
Riesengedächtnis, welches ihn oft daran verhinde
Namen dessen zu merken, dessen Gedanken und
schreibt.
Nun denn auch ich, wie ich beizeiten gestehen
solch psycho= und antipathisches Gedächtnis, wie
cobsohn; und ich erinnerte mich dessen vor einer
gerade als ich meine Betrachtung über „das Leben
Der Leser begreift jetzt wohl, daß ich nicht weiter
mag. Bedenke er doch: Wie leicht könnte man
des Plagia. beschuldigen! Wie heftig könnte ma
erfen, daß meine Gedanken die Gedanken ein
mein meisterhafter Stil der meisterhafte Stil ein
sei — und daß ich absichtlich meinen Kopf mit
andern verwechsle . . . Ja ich müßte mich dan
machen, daß vielleicht schon morgen mir irge
nachwiese, ich hätte meine „Betrachtungen“ in
ster Weise den „Gedanken und Gestalt
lag von Albert Langen in München) entnomm
ganzenden Buch, dessen Verfasser kein Geringer
Georg Brandes... Was dann?... T
ich als doppelter Plagiator da: als einer, dere
gemacht hat, wie Brandes — und als einer, der
gemacht hat, wie Jacobsohn ... Nein, da halt
nem „meinen Betrachtungen!
Allerdings, wenn man mich angriffe, könnt
besser verteidigen, als der Berliner Herr es geta
besser! Ich gäbe einfach mein Ehrenwort dar
würde es beschwören, daß die „Betracht
meiner Feder geflossen sind — und nötigen
ich als unverwerflichen Zeugen jenen Papier¬
führen, bei dem ich die Feder gekauft habe, som
gehörigen Tinte.... Auch könnte ich noch das
Wort anführen: „Alles ist schon gedacht worden;
nur versuchen, es noch einmal zu denken
logischerweise einen anderen Satz ableiten: „Alle
geschrieben worden; man muß nur versuchen, es
zu schreiben ..." Doch ich verzichte lieber auf
Sache. Die Welt ist so mißtrauisch, so bosha
solche Argumente ließe sie vielleicht nicht
Also Schluß
Den Lesern aber darf es leid tun, daß ich
*) Jetzt fühlt sich, wie bei diesem Anlaß erwäh
noch Arthur Schnitzler, — wirklich: Arthur
ler! — gedrängt, dem kleinen Dieb zu Hilfe zu
aus ärztlicher Erfahrung mildernde Umstände
Tiefsinn hervorzusuchen In einem Artikel in der he
kunft behandelt er das Thema: Dies patholog
kein Engel ist so rein! Es ist erstaunlich zu
heutzutage das Gefühl für das Einfach¬
ständliche hinschwindet und wie die tolle
wirrung sogar auf das Gebiet der Kindermor¬
greift. D. Red.