VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 135

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13. Miscellaneous
Forderungen. Sie werden anstandslos gewährt, als ob
die ganze Welt ihr Heil und ihre einzige Stütze in
der Armee erblicken würde. Auf allen anderen Gebieten
wird mit jedem Kreuzer aufs engherzigste gespart
es muß erst jahrelang petitioniert werden, um irgend
einer, von anderen Staaten bereits anerkannten, für
die wirtschaftliche Entwicklung erforderlichen Not¬
wendigkeit auch bei uns Eingang zu verschaffen¬
immer wieder verschanzt man sich hinter dem Einwand,
es sei kein Geld vorhanden. Leider gilt dieser Einwand
nur bei solchen Maßnahmen, welche dem Volke als
solchen zugute kommen würden — man denke doch
an die vielen der Verwirklichung noch immer harrenden
Aufgaben der sozialen Fürsorge; alle müssen sie vor
den Forderungen des Militarismus weichen. Für die
Linderung der infolge der Ueberschwemmungen ver-
ursachten Not mußte man sich mit einem lächerlich
geringen Notstandsbeitrage begnügen — für neue Ge-
wehre und Kanonen werden Millionen gefordert und
ohne Skrupel bewilligt und beschafft, trotzdem angeblich
kein Geld vorhanden sei. Man opfert diese Millionen,
trotzdem man weiß, daß sie in dem Momente als hinaus¬
geworfen erscheinen müssen, in welchem eine neue Er-
findung bezüglich der Konstruktion der Feuerwaffe
zum Vorschein kommt; daß an solchen Erfindungen
kein Mangel ist, beweist die schon zum tenmale
vorgenommene Bewaffnung mit stets neuen Gewehren.
Unter dem Militarismus leiden alle kontinentalen
Völker und ist auch keine Aussicht vorhanden, daß
sie in absehbarer Zeit von dem auf ihnen lastenden
Drucke befreit werden könnten.
Vor einigen Jahren schien es allerdings, als ob
sich auch die maßgebendsten Faktoren der Unerträg¬
lichkeit dieser Rüstungsmanie bewußt geworden wären
und auf endliche Abhilfe denken würden. Der Zar war
es, welcher ein Manifest gegen die immer steigenden
Anforderungen des Militarismus erlassen hat. Die
steigenden Kriegsrüstungen seien schon fast unerschwing
lich geworden, der Panzer drücke die Völker zu Boden,
der Moloch Militarismus verschlinge alles Geld, das
besser für Wohlfahrts- und Kulturzwecke zu verwenden
wäre — mit einem Worte, die bestehenden Heere, be¬
stimmt den Frieden zu schirmen, bedrohen ihn in
erster Linie — das sind sicherlich Worte, die jedem
Zivilisten aus dem Herzen gesprochen sind — man
gab sich schon der zuversichtlichen Hoffnung hin, der
Zar werde seine Worte zur Tat werden lassen und
der erste sein, um mit der Abrüstung anderen Staaten
ein nachahmenswertes Beispiel zu geben. Es kam be¬
kanntlich zu der Friedenskonferenz in Haag. Diese
konstituierte zwar ein Schiedsgericht, das bei inter¬
nationalen Streitigkeiten geringer Art zu entscheiden
hatte — jedoch der Hauptzweck, die Vermeidung eines
Krieges und allgemeine Abrüstung wurde nicht er¬
reicht. Sogar der Forderung nach einer Herabsetzung
des Heereskontingentes wurde seitens einzelner Staaten
energischer Widerstand entgegengesetzt.
Der Urheber der ganzen Friedensaktion selbst
aber wollte zur Verwirklichung seiner schönen Friedens¬
ideen auch nicht schreiten, im Gegenteile, seine späteren
Regierungsakte stehen in direktem Widerspruche mit
jenen so enthusiastisch aufgenommenen Worten. Die
Unterdrückung der Finnländer, die Annektierung der
Mandschurei und der jetzt entbrannte Krieg mit Japan,
beweisen, daß wir noch immer am alten Fleck stehen,
daß der Militarismus noch lange nicht seinen Höhe¬
punkt erreicht hat und daß ungeachtet der ihm
bereits geopferten Milliarden das Volk noch immer
wird bluten und an den für den allgemeinen Wohlstand,
für das ungestörte Familienleben tausender friedlicher
Bürger verhängnisvollen Folgen eines Krieges wieder
generationenlang wird leiden müssen!


Der Wiener Roman.
Seitdem Arthur Moeller-Brück in dem 10. Bande
seiner „Modernen Literatur in Gruppen und Einzel¬
darstellungen“ *) das junge Wien einer gar gehässigen
und abfälligen Kritik unterzogen hat, ist ein Jahr ins
Land gegangen. Dieses Jahr — eine kurze Zeit, wenn
man will — hat in literarischen Dingen vieles hervor¬
gebracht, was man „draußen“ in Deutschland leichthin
als die Folge jenes Buches annehmen wird, voraus¬
gesetzt, daß man wienerischen Arbeiten dieselbe ab¬
lehnende Voreingenommenheit und dasselbe Unver¬
ständnis, wie es eben die große Masse leider hegt,
entgegenbringt. Arthur Moeller-Brück hat damals davon
gesprochen, daß alle Wiener Schöpfungen etwas Weibisches,
Farbloses in sich trügen, kurz, daß ihnen die Boden¬
ständigkeit fehle. In vielen hat er Recht, mindestens
bei jenen Autoren, die er aufzählt. Was ist z. B. an
Altenberg, Salus, Dörmann, Hoffmannsthal etc. spezifisch
wienerisch: Diese Leute könnten ebenso gut anderswo
gelebt und geschrieben haben, wie in Wien. Man wird
einwenden, die Bodenständigkeit, die Heimatskunst, ge¬
deihe nur im freien Lande. Die Großstädter seien alle¬
samt wurzellos und hätten keine Heimat. Das ist nicht¬
richtig. Schon Hoffmann 2) bedauert, daß wir z. B. die
entlegensten Winkelgassen von London, ihr Aussehen,
ihre Bewohner die Topographie von Paris, die Ge¬
schichte und Kenntnis des Lebens jener Städte durch
Boz, Scott, Paul de Kock, Zola etc. besser kannten,
als unsere Heimat, von der die Schriftsteller immer
nur den Stephansturm, allenfalls noch den Prater und
Schönbrunn erwähnten. Wenn dann schiefe Urteile
über Wien gefällt werden, tuts freilich wehe, aber
schuld ist daran niemand anderer, als der heimische
Schriftsteller selbst. Das ist nun seit Jahresfrist auf
einmal anders geworden. Der große Wiener Roman ist
auf dem Anmarsche. Schon ist der Vortrab einge¬
troffen und schon sind die Führer der Haupttruppen
uns auch dem Namen nach bekannt. Vielleicht ist's ein
bloßer Zufall, der eine momentane Häufung derartigen
Materials hervorgerufen hat. Vielleicht beginnt wirklich
Schuster u. Löffler, Berlin 1902.
2) Altwiener Studien, Leipzig, Reclams Univ.-Bibl., Nr. 2101.