VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 136

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Miscellaneous
das Interesse am Wiener Roman, der im besten Sinne
der: ohne künstlerische Bohemiene kommt der Ver¬
lokal sein wird, aufzuleben und das gesteigerte Selbst¬
fasser nicht aus. Immer stehen Künstler im Mittel¬
bewußtsein äußert sich nun in Konkurrenzarbeiten.
punkte der Handlung. Es ist dies kein Zufall. Der
Wiener hört und liest gerne von seinen Lieblingen.
Einer der ersten Vorläufer des großen Wiener
Die ganze Theaterkritik der Wiener Presse ist kein
Romanes ist Adolf Dessauers Gesellschaftsbild „Götzen¬
künstlerisches Würdigen der tatsächlichen Leistungen,
dienst. 3) Das Buch ist eine Satire auf Wiener Literatur
sondern „Tratschkolportage. Nicht wegen des Dichters,
verhältnisse und gibt Gelegenheit, manches zu berühren,
sondern wegen des Schauspielers, nicht wegen des In¬
was sonst außerhalb des Rahmens dieser Arbeit läge.
halts und der Form, sondern wegen der Tendenz und
Zunächst ist es durchaus nicht das erstemal, daß jemand.
der Aktualität geht der Wiener ins Theater. Darum
wie die Kritik damals meinte, sich auf bestimmte Per¬
darf man sich nicht wundern, wenn der Romanzier
sonen stützt, und die Schilderung ihres Lebens gleich¬
seinem Publikum das vorsetzt, was er gerne hat. So
sam als Sprungbrett benützt, um sich im allgemeinen
hat es Dessauer gehalten, so Schönthan in den „Blauen“ *)
über wienerische Zustände zu äußern. Nur seit langem
so Bahr in seinen schlimmen Novellen, die wir ihm
hatte das niemand gewagt. Zur Zeit, als das Buch
vergessen wollen, so Ludwig Hirschfeld im „Jungen
erschien, gab es in Wien einige markante Persönlich¬
Fellner, Ida Bock in den „Bernhardmädeln“ *) und
keiten, die an der Oberfläche schwammen, Namen wie
viele andere.
Lueger, Bahr, v. Badeni wurden zum erstenmale ge¬
Ludwig Hirschfelds „Junger Fellner“ ist noch aus
nannt. Ferner gab es Zustände, die immer wieder¬
einem anderen Grunde interessant. Er ist gleichsam
kehrten: Straßenregulierung, literarische Salons, Pre¬
ein Pendant zu der „demolierten Literatur“ von Kraus
mieren, Ministerstürze, diverse Tagesskandalchen und
und jene, die Krausens Ausführungen für übertrieben
soziales Elend. Endlich gab's Typen: Der Wiener
halten, werden bei Hirschfeld den unbeabsichtigten
Spießer (= der Biedermeier par excellence), der mi߬
Wahrheitsbeweis finden.
ratene Sohn (= Familienlump), der verkannte Künstler,
ihm zunächst verwandt der alles unternehmende, immer
Das literarische Kaffeehausleben in Wien, das
das Strafgesetz geschickt umgehende Hochstapler, ferner
beide, Hirschfeld und Kraus, schildern, hatte zur Folge,
der Finanzbaron, das süße Mädel, der Journalist
daß gewisse typische Ideen gleichsam Gemeingut werden,
großen Stilles und der Aristokrat. Auf diesen drei
d. h. daß man eigentlich niemanden recht dafür ver-
Grundlagen entwickelte sich der Wiener Roman von
antwortlich machen kann. So ist es auch mit dem
heute. Die Persönlichkeiten steuerte die Geschichte
vielgenannten „süßen Mädel aus der Griensteidlära
des Tages bei. Sie wurden natürlich nie genannt und
gegangen. Heute gilt Schnitzler als der Schuldige.
doch kannte sie jedermann. Ein intimer Reiz, der dem
In Bahrs Novellen findet es sich allerdings schon vor
Wiener sehr viel gilt. Für die Zustände und Typen
Schnitzler. Dieses süße Mädel hat viel Unheil ange¬
lagen die interessanten Vorarbeiten des leider viel zu
richtet. Als es im Wiener Roman sich unmöglich ge¬
wenig gewürdigten, dafür desto mehr geplünderten
macht hatte, stattete man es mit einem Adelsprädikate
Friedrich Schlögl und die Wiener Humoresken Ed. Pötzls
aus und so erhielten wir die Liebesgeschichten mit
vor. Schon bei diesen beiden findet sich die Satire,
aristokratischem Beigeschmack. In den landesüblichen
ein besonderes Kennzeichen des Wiener Romanes, immer
Kolportage-Romanen war es wohl stehender Stoff, daß
und immer wieder vor. Bei Schlögl so, daß er zwar
irgend ein Aristokrat ein armes Mädchen verführte und
immer schimpft und poltert, aber nicht weiß, was er
dann sitzen ließ. Das Umgekehrte — eine aristo¬
will, bei Pötzl, indem er die Mißstände lächerlich macht,
kratische Dame richtet einen armen Bürgerlichen (meist
sie aber dadurch entschuldigt. Ein dritter im Bunde
natürlich einen Künstler!) zugrunde — das war neu
wäre Karl Kraus, der jetzige Herausgeber der „Fackel“,
und packte. So erhielten wir die Romane von Emil
der in seiner demolierten Literatur) manchen guten
Urbar: „Zucht“ *) und August Weißl „Gräfin Julie“ *).
Baustein zu dem großen Werke gebracht hat.
Letztere wurde bekanntlich in Oesterreich verboten,
nicht so sehr der erotischen Gestaltung wegen, wie ich
Die drei Repräsentanten der Wiener Satire,
glaube, sondern weil der Autor das Malheur hatte, der
Schlögl, Götzl und Kraus, verkörpern gleichzeitig die
Gräfin einen Zunamen zu geben, der im Adelskalender
drei Epochen, die der Wiener Roman durchzumachen
zufällig wirklich existiert. Schnitzlers Reigen, der
hatte: raisonnierende Biedermaierzeit, humor volles Hin¬
Gipfelpunkt der Erotik, wurde bekanntlich nicht ver¬
weglächeln über die Gegenwart und Vernichtung der be¬
boten. Gänzlich unabhängig der Tendenz und der
stehenden korrupten Verhältnisse. Epochen — sagten
Färbung nach, inhaltlich aber auch hierher gehörig
wir. Es ist dies eigentlich kein ganz richtiges Wort.
erweist sich der gute alte Roman von Baron Torresani
Denn neben dem zeitlichen Nacheinander findet man
„Die Zuckerkomtesse“ *), der schon infolge der Zeit
ebenso häufig ein räumliches Nebeneinander, je nach
dem Charakter desjenigen, dem der Stoff zum Romane
in die Hände fiel.
5) Herm. Seemann, Leipzig 1902.
Ein anderer Grundzug des Wiener Romanes ist
*) Herm. Seemann, Leipzig 1902.
Beide in Seemanns kleiner Unterhaltungsbibliothek, Bd. 1
3) Leipzig. R. Reclam, Univ.-Bibl. Nr. 4024—26 in 3. Aufl.
und 2, Leipzig 1902.
*) A. Bauer, Wien 1897, 2. Aufl.
) Person, Dresden 1900.