VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 164

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sans
neuen Ringens fesseln Jörn Uhl oder Klaus Heinrich
liegt denn ein
Baas seine Aufmerksamkeit. Und hier
schwacher Punkt: wie Goethes „Wilhelm Meister" werden
sobald sie den
seine „Helden", uninteressant
auch
richtigen Weg gefunden haben. Denn ihn selbst zieht dann
immer wieder das große Getriebe an, und er stellt sich wieder
in den Menschenstrom und vergißt den Helden und sieht sich
nach anderen um. Nichts ist dabei packender als wenn er
alte Bekannte widersieht, wenn der trotzig zürnende Bauernsohn
aus Amerika heimkommt oder Klaus Heinrich seine frühere
Der moderne deutsche Roman.
Geliebte wieder erblickt.
Freussen wirft sich in den Kampf um die Ziele seiner Helden
Von Richard M. Meyer.
mit jenem Feuereifer, der einst Spielhagens und Suder¬
(Schluß.)
manns Romane so wirksam machte. Aber seine „Tendenz
Gustav Freussen (geb. 1863) kommt wie Gotthelf vom
ist größer, freier, nicht als Parteimann allein kämpft er
Landpastorat zu der Predigt vor großer Gemeinde; und ein
wenn er auch seinen Liberalismus vor allem in kirch¬
Prediger, ein Erzieher, ein Mann der Tendenz ist er stets ge¬
lichen Fragen nie verleugnet, sondern als „Bürger derer
blieben. Ein rein ästhetisches Kunstwerk, wie die Romane der
die da kommen werden“. Und deshalb geschieht, was ein
Ricarda Huch, sagt ihm nichts; mit Volkserziehern, wie
sicheres Zeichen der groß angelegten epischen Begabung ist:
Gottfried Keller selbst einer sein wollte, fühlt er sich verwandt.
wie bei Balsac die Romane, wie bei Heyse die Novellen,
Und wie Gotthelf auch hat er sich selbst zum Schriftsteller erst
so runden sich bei Freussen die Erzählungen zu Einen großen
erziehen müssen. Er begann mit Nachahmungen des rechten
Ganzen: zu dem Roman des Neuen Reichs.
guten alten Familienblattromans" und fand sich selbst erst
Man muß deshalb dem, für den diese neue Welt der eigent¬
mit „Jörn Uhl" (1901).
liche Held ist, verzeihen, wenn die äußere Form jener Teilstücke
Liegt die Begabung von Clara Viebig in der sicheren, festen
des großen Romans, die selbständig in die Welt treten, so un¬
Art, wie sie die einzelnen Gestalten hinstellt, während die „Fabel", die
vollkommen ist. Viel zu lang sind „Jörn Uhl" und „Klaus
Kunst, sie in Bewegung zu setzen, nicht auf gleicher Höhe steht;
Heinrich Baas", schlecht komponiert „Jorn Uhl" und „Hilligen¬
ist die Stimmung, die Zahns einfacher Vortrag psychologisch
lei", ungleich „Hilligenlei" und „Klaus Heinrich“. Und die
notwendiger Geschehnisse hervorruft, der stärkste Beweis seines
Sprache hat er nie meistern gelernt; es straft sich, daß sie dem Ver¬
Talents — so ist Freussen vor allem der geborene Erzähler.
ächter aller „Kunst um der Kunst willen zu ausschließlich Mittel
Seit Gottfried Keller hat niemand bei uns diese weitere
ist. Das künstlich abgewogene Deutsch Wassermanns, die
Grundeigenschaft des echten Epikers in gleichem Grad besessen:
glänzenden Stilkünfte der Brüder Mann, der Helene Böhlau
die Freude an dem bunten Menschenschicksal selbst, die uner¬
und Ricarda Huch, die geistfunkelnde Rede der Bahr und
schöpfliche Lust am Erzählen als solchen. Auch Rosegger, ein
Schnitzler würde er wohl gar nicht anstreben; aber auch die
unübertrefflicher Erzähler, besitzt diese Natur nicht in gleichem
einfachere Kunst individuell belebter Rede, wie sie Ernst Zahn
Grade; und in der Fülle der merkwürdigen „Einfälle" ist ihm
oder Hermann Hesse besitzen, fehlt ihm. Wo er wundersame
seit Keller auch im Ausland nur Einer überlegen, mit
Geschichten erzählt, findet er stets das rechte Wort — wo er
dessen einziger Vortragskunst die Freussens freilich auch ent¬
Seelenzustände schildert, wird er nur zu leicht hart und trocken.
fernt nicht verglichen werden darf: Maupassant. Wie Hebbel
Jener Mangel aber an Ausgeglichenheit zwischen dem offen¬
ist Freussen ein „Menschenfresser"; er kann keinen Menschen
baren und dem „heimlichen Helden, den wir bei Freussen
sehn, ohne daß ihn nach seinen Schicksalen gelüstete. Nur,
wegen seiner höheren Ziele und seiner kleineren Kunst noch
wenn Hebbel nach dem Geheimnis fragte, das die menschliche
stärker empfinden als bei Zahn, er ist auch bei einem feinen,
Individualität von Anfang an konstituiert, reizt es Freussen,
grüblerisch nachdenklichen, originellen Künstler wie Jakob
die Ereignisse zu hören, die ihn umgestaltet haben. Er steht
Wassermann nicht überwunden.
im Strom des Großstadtlebens auf der Berliner Friedrichstraße,
Jakob Wassermann (geb. 1873) aus Fürth ist mit Thomas
sieht die Menschen an und fragt sich bei jedem: Woher mag
Mann eng befreundet und lebt schon seit Jahren in Wien, mit
diese Falte auf der Stirn stammen? dies müde Lächeln? Trifft
den Schnitzler, Beer=Hofmann, Hofmannsthal in angeregtem
er in Gesellschaft einen reichen Kaufmann, einen Kunstgelehrten,
geistigen Verkehr. Österreichischen und norddeutschem Wesen
er muß ihn ausfragen nach seinem Tagewerk, seinen Erfolgen,
hat seine doch ausgesprochen süddeutsche Art sich angeschmiegt;
seiner Lebensweise. Den seelischen Kern verrät ihm schon der
wobei freilich nicht zu übersehen, daß er Jude ist, ja das
erste Blick — nicht umsonst hat er, halb Landpfarrer und halb
Indentum betont wie Beer=Hofmann und Schnitzler oder Felix
Bauer, ihn in langjähriger Menschenbeobachtung geübt; nun aber
Salten. Auch dem Dichter Wassermann hat man eine über¬
will er all das wissen, was man nicht sieht. Denn sein hohes
triebene Anpassungsfähigkeit vorgeworfen; uns scheint aber,
Interesse gilt doch nicht diesen Einzelnen, die er so begierig
daß die allerdings wechselnden „Masken" seiner künstlerischen
anstrebt. Nach Hilligenlei (1906) geht die Fahrt; nach dem
Physiognomie ihre Ablösung jedesmal einem neuen Schritt
Land der Verheißung steuern Jörn Uhl und Klaus Heinrich
seiner inneren Entwicklung verdanken.
Baas (1909). Dies ist ein Weiteres, was er mit dem großen
Wassermann steht in seinen frühesten Werken der Gestaltung
Meister von Zürich teilt: das leidenschaftliche, patriotische und
des Kollektivhelden näher als in den späteren. Die „Juden
humane Mitfühlen. Auf einem großen, mächtigen Schiff sind
von Zirndorf" (1897) und „Renate Fuchs" (1900) haben aus¬
wir alle eingeschifft, der mastenreichen „Deutschland“; ein
schließlich das Judentum zum Träger der Handlung, das sich
schönes fernes Ziel ist uns versprochen. Da gilt es zu er¬
in einzelnen Figuren nur so exponiert, wie etwa in Willibald
forschen, wohin der Kurs gerichtet sei. Alle gilt es kennen zu
Alexis Romanen das Preußentum. „Alexander in Babylon
lernen, Kapitän und Steuermann und alle die Matrosen und
1904) stellt den „Helden" (im stärksten Sinne des
die Schiffsjungen. Denn Freussens heiße Sehnsucht gilt dem
Wortes) im Kampf gegen das seinem Hellenentum
heiligen Lande, das wir erreichen sollen.
gefährliche Asiatentum dar und besitzt somit ein ähnliches
Wohl werd ich's nicht erleben,
Schema wie Zahns „Keine Brücke" oder „Einsamkeit"
Doch an der Sehnsucht Hand
Noch deutlicher empfinden wir diese Zweigliedrigkeit
Als Schatten noch durchschweben
des Aufbaus in seinem feinsten und ungleich stärksten Buch:
Mein freies Vaterland.
Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens" (1908). Der
Überall sieht er neue Segel sich spannen: in der religiösen
Findling ist hier eigentlich nur das Regenzglas, das die
Stimmung, in der sozialen Lage, in der industriellen Bewegung.
Eigenheiten der bösen trägen Welt offenbaren läßt. Dennoch
Alle möchte er verstehen und überall mitarbeiten, damit sein
ist hier ein Fortschritt auch in der Anlage unverkennbar.
geliebtes Schiff die rechte Richtung nimmt.
Denn eben die Welt in ihrer Vielfältigkeit reizt ihn jetzt,
Und da verplandert er sich wohl auch und vergißt über dem
wenn er sie und auch uns unter seinem Gesichtspunkt sieht,
Ausfragen und Wiedererzählen von dieses oder jenes Mannes
dem der Herzensträgheit. Die Juden, die asiatische Welt — das
Vorleben die große Aufgabe. Daß er sich auch zu konzentrieren
sind nur Bruchstücke der Menschheit; nun aber richtet sich zum
versteht, beweist „Peter Moors Fahrt nach Südwest" (1907),
Ehrgeiz auf den Menschen selbst als Helden.
wo er einmal nur von einem dieser unscheinbaren Werkmänner
Dies führte ihn zu scheinbar weit entlegenen Mustern. Der
und Märtyrer des Neubaus unserer Welt erzählt. Sonst aber
alte zuglische Roman scheint auf den ersten Blick nur eine
interessiert er sich zu sehr für seine vielen Leute. Zu sehr,
primitive Anhäufung von wilden Abenteuern, die sich zufälliger
denn sie sind ihm ja doch nur Herr. Nur als Symbol des