VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 165

13. Mis.

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Emil Ertl (geb. 1860) und Rudolf Hans Bartsch ge¬
als irgendwo sonst um ein paar Persönlichkeiten gruppieren.
1873) versuchen es, jener Wien („Die Leute vom blauen
Aber tatsächlich liegt hinter dieser Buntheit eine Summe wirk¬
Guguckshaus" 1906, „Freiheit die ich meine 1909), dieser
licher Welterfahrung, die wir als „Psychologie der Ver¬
nach seinem eigenen Zeugnis) Graz („Zwölf aus der Steier¬
hältnisse bezeichnen können. Gewisse Anfänge führen zu
mark" 1908) zum eigentlichen Helden zu machen. Bartsch kam
bedeutenden Entwicklungen; jede Passion steigert sich bis ins
freilich wohl erst allmählich auf diesen Gedanken, erst hatte
Groteske. Diese typischen Entwickelungen vollziehen sich, wo
er nur einfach ein Bündel Helden verknüpft, fast wie Gutzkows
sie eben Nährboden finden. Fast wie eine Krankheit einen
„Roman des Nebeneinander", wie er denn auch zu dem
typischen Verlauf hat, ob sie nun einen guten Mann trifft
Einheldenroman zurückgekehrt ist („Elisabeth Kött" 1909)
oder einen schlechten.
freilich mit einem Theaterroman, der einiges Symbolische fast
Aus der ungeordneten Abenteuerfülle des englischen Romans
unvermeidlich mit sich bringt. — Andere Österreicher wie
hatte nun aber Richardson, ohne sie doch eigentlich auf¬
Felix Salten (geb. 1869: „Herr Wenzel auf Rehberg" 1901)
zugeben, einen strenger komponierten Roman herausgeformt.
Franz Karl Ginzkey (geb. 1871: „Jacobus und die Frauen
Seine „Clarissa" (1749) wird das unmittelbare Vorbild für
1908), Otto Stoßl (geb. 1875: „In den Mauern" 1907
Das Thema ist (wie
„Erwin Reiners Masken" (1910)
„Negerkönigs Tochter 1910), Otto Hauser (geb. 1876: „1848
schon anderwärts bemerkt wurde) völlig das gleiche: die Be¬
1907, „Spinoza 1908), Karl Hans Strobl (geb. 1877:
lagerung einer weiblichen Tugend durch einen liebenswürdigen
„Die Waclavbude" 1902, „Elagabal Couperus" 1910), teilen
Verführer. Allerdings — Clarissa unterliegt, sie stirbt; die
mit jenen wenigstens die Neigung zu kunstvollem Aufbau und
Erwin Reiner umwirbt, wird gerettet. Dies aber häng
sorglich gepflegter Sprache. In ihr besteht vor allem bei Bartsch
damit zusammen, daß bei Wassermann doch eine Verschiebung
der Erfolg; freilich auf einem Rückgriff ins Lyrische, wie auch
der Fabel eingetreten ist. Bei Richardson ist wirklich
Ginzkey ihn zeigt; anders Stoeßl und Strobl. Auch kommen
Clarissa die Heldin; bei Wassermann könnte es eher Erwin
sie gleichfalls oft nahe an die Wahl eines abstrakten Helden
Reiner scheinen, der blasierte Allerweltskünstler, der an seinem
heran — merkwürdigerweise auch zumeist einer Stadt, wie Prag
ersten wahren Gefühl zugrunde geht, oder noch eigentlicher:
in Strobl kräftiger „Wärterbude“!
an der Unfähigkeit, auch nur hier ganz in seinem
Aber die eigentlichen Verdienste des geistreichen Dialog¬
Gefühl auszugehen. Eigentlich aber ist auch er
künstlers Schnitzler, des gedankenreichen Essayisten Bahr, des
nur ein Symbol. Wassermann, der sich von dem
feinen Novellisten Ertl liegen auf anderem Boden. Und so
Entwicklungspessimismus des „Caspar Hauser bekehrt hat
bleiben als die eigentlichen Vertreter dieser Entwicklungsstufe
faßt nun die Welt als ein wohlgeordnetes Ganzes, von einer
des modernen deutschen Romans eben die Brüder Mann.
sittlichen Ordnung durchdrungen — und diese ist der wahre
Held. Sie wird bestürmt, indem ein Übermütiger, für den es
Eine Reihe von technischen Eigenheiten zeigte ihre Verwandt¬
keine Moral gibt, auf den Reichtum seiner persönlichen und
schaft. Die „Buddenbrooks oder „Königliche Hoheit" teilen mit
sozialen Mittel trotzt; daß er einem Mädchen nachstellt, ist nur
der „kleinen Stadt“ die Neigung, die zumal bei Heinrich Mann
Symptom. Aber die Ordnung stellt sich wieder her, so nah¬
auch wohl übertrieben wird. Klaus Heinrich oder der Advokat
Erwin zeitweilig seinem Ziele scheint; und somit ist die para¬
Belotti können nie genannt werden, ohne daß bestimmte typische
doxe Anlage berechtigt, die den berechtigten Bräutigam nur
Gebärden hervorgehoben werden. Das scheint nichts Neues
am Anfang und am Ende einen Augenblick lang auf der
es begegnet unaufhörlich schon bei Dickens; und wie die
Bühne zeigt.
„großen Frauen in der „Heiterethei" nie genannt werden,
ohne daß bestimmte Formeln hinterdreinrauschen, das hat schon
Diese Fabel gibt nun einen großen Vorsprung, insofern als
systematische Anordnung von Erwins Experimenten durch
Heinrich v. Treischke geärgert. Dennoch handelt es sich nicht
um ganz dasselbe. Bei Dickens scheinen diese typischen
seinen raffiniert überlegenden Geist berechtigt ist. (Obwohl ein
Gebärden, Redensarten, Eigenheiten der immer neu ein¬
Berliner Kritiker bemerkt hat, er würde die Verführung
zuschärfenden Individualcharakteristik; ebenso bei seinen deutschen
viel geschickter in Szene gesetzt haben, worin ihm ja
Schülern Gustav Freytag und Fritz Reuter. Bei den
vielleicht Erwins Mißerfolg recht gibt...) Und der Umstand
Brüdern Mann dienen sie dem Bedürfnis des Stilisierens
daß zwar die Umworbene ein einfaches Mädchen, der Werber
und auch hier steht Otto Ludwig auf der Mitte des Ent¬
aber, der doch die Handlung trägt, mit allen Verfeinerungen
wicklungsweges. Wie die berühmten „epithet ornantia“ be¬
der Kultur nur zu vertraut ist, legimitiert auch die etwas
Homer sollen diese Sätze über die Oberlippe der Königlichen
schwere, nicht selten gesuchte Sprache, deren innere Berechtigung
Hoheit oder die Stirn des Advokaten Belotti monumentali¬
aber in jenem Streben und einem eigenen Romanstil liegt.
sieren, den überrealen Charakter der kunstmäßigen Erzählung
Nicht „poetisch" im Sinn der Lyrik, noch weniger rhetorisch soll
die Rede sein, am wenigsten flach berichtend: sie soll dem
symbolisieren.
Roman als einem Kunstwerk der Erzählung angemessen sein,
Aber auch eigentliche Symbole wenden beide gern an¬
wie in den „Wahlverwandschaften" und — sonst fast nirgends.
nicht so Wassermann. Man denke nur an die so charakteristisch
Und so soll denn auch eine klare, ja auffällige Gliederung die
verschiedenen Schlösser in „Königliche Hoheit"! Diese Symbol¬
Erzählung als Kunstwerk charakterisieren.
aber werden sorgfältig verteilt, so daß sie an sich schon eine
architektonische Gliederung ergeben, die den Inhalt als bewußt
Dies gilt nun in noch höherem Grade von den Brüdern
ausgewählt erscheinen läßt. Es soll kein einfacher Ausschnitt aus der
Mann, die mit Wassermann die streng „artistische Behand¬
Wirklichkeit sein. Dem dient noch ein anderer Umstand, der ihm
lung des Romans teilen, sonst aber weit von ihm und weit
zunächst zu widersprechen scheint. Thomas Mann bedient sich
untereinander abweichen.
der historischen Wirklichkeit, um die romanhafte zu verringern.
Vor allem haben beide den Schritt vollzogen, vor dem
Solche tatsächlichen Ereignisse im Leben der eigenen Familie,
Freussen und Wassermann noch scheuen: sie haben endgültig
die ihm zweckdienlich scheinen, wie die Blutmischung; wirklich
den Kollektivhelden an die Stelle des individuellen gesetzt:
vorhandene Momente, die an sich nicht wesentlich scheine, wie
Thomas Mann (geb. 1875) die Familie („Buddenbrooks
das Verhältnis zur Musik. Allerlei Modelle gerade auch für die
1901) oder den Kleinstaat („Königliche Hoheit" 1909)
Nebenfiguren werden benutzt, um der Strenge eines rein logischen
Heinrich Mann (geb. 1871) die „Kleine Stadt" (1909).
Aufbaues, einer systematischen Erfindung ein Gegengewicht zu
Neben ihnen steht in dieser Hinsicht eine ganze Gruppe, lauten
geben. Und auch hiermit steht es wie mit jenen formelhaften
Österreicher. Denn in diesem Lande, in dem gerade die
Dingen: was der jungdeutsche Roman tat, um die Wahr¬
Deutschen sich in einer gewissen weich idyllischen Behaglichkeit
scheinlichkeit zu erhöhen, das tut Thomas Mann, um sie zu
zu leicht gefallen, von dem Sirenenlied der Stieferschen Be¬
mindern, um den Eindruck der Erfindung zu steigern:
schaulichkeit und der Grillparzerschen Weltschen eingelullt, kommt
Dinge werden eingemischt, die gar nicht zur Sache
die Abneigung gegen einen starken bewegenden Helden, der
selbst zu gehören scheinen und deshalb wie phantastisch
Unterdrückung des Romanträgers entgegen. Arthur Schnitzler
hineingeschneit auf den überrealen Charakter der Vor¬
(geb. 1862), der erst die Geschichte einer einsamen Frau
gänge hinweisen. Geht doch Mann so weit, für sein
(„Frau Bertha Garlau" 1901) mit eindringender Seelen¬
letztes Werk das Prädikat der „Märchenhaftigkeit" mit Freude
analyse schrieb und Hermann Bahr (geb. 1863), der in
anzunehmen. Wie denn auch in seinem Stil und ebenso in
der „Hohen Schule" (1890) einen französierenden Künstler¬
dem freilich cholerisch geschwolleneren des älteren Bruders die
namen aus états d’âme zusammengesetzt hatte, machen nun
Ironie des modernen Märchenerzählers nicht zu verkennen ist.
des Wiener Judentum („Der Weg ins Freie" 1908) oder das
Diesen Schritt weg von der romanhaften Erfindung tun nun
heater („Die Rahl" 1908) oder das österreichische Beamten¬
um („Drut" 1909) zum wirklichen Helden. Die beiden Grazer noch folgerechter zwei große Erzählerinnen.