VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 166

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Miscellanes
Enrica v. Handel=Mazzetti (geb. 1871) steht ganz gewiß
erkennt die Vorbereitung der großen Entschlüsse, er schaut den
in vielfacher Hinsicht noch völlig auf dem Boden des alten
inneren Kämpfen der Seele zu, er verbindet mit psychologischen
Romans. Sie liebt die „Spannung", die Ernst Zahn oder
Zwischengliedern die bekannten Momente und hilft die Schick¬
Thomas Mann geradezu verabscheuen und deshalb durch deut¬
sale der Helden aus dem Leben des Volkes begreifen.
liche Vorausbeutungen aufheben. Sie hat unzweifelhaft „Helden
Es ist nicht der einzige große Versuch eines Prosa=Epos.
im Romansinn: in „Meinrad Helmpergers merkwürdigstem
Größer, gewaltiger ist ein anderes, das einzige wirklich große
Jahr (1900) den guten Pater, in „Jesse und Maria
Epos unserer Tage (trotz Spittelers geistreich willkürlichen
(1906) die wunderbar wahre Gestalt der Maria, in
„kosmischen Epen!"); der „Zarathustra Nietzsches. Auch hier
der „Armen Margaret" (1910) den biedern Viertelsmeister.
hat die Anlehnung an typische Entwicklungen der Ausmalung
Und wenn sie in Sprache, Kostüm, Denkart des 17. Jahr¬
gedient, auch hier vereint sich Modernstes mit Antik=Monu¬
hunderts tiefer eintaucht als irgend der historische Roman nach
mentalem; aber die Tiefe der Gedanken läßt nur gesteigerte
Manzoni getan, so scheint auch das lediglich als eine Vervoll¬
— kein Ge¬
epische Ausdrucksmittel zu. Ein Epos ist dies
kommnung der Methode, die doch aber schon alle Nachfolger
dankenroman, wie etwa Wilbrandt sie zu geben versuchte. Ein
Walter Scotts befolgten. Aber es liegt auch hier etwas
Epos mit einem Riesen=Atlas als Helden, der die Last einer
anderes hinter dem Schein. Die Dichterin, die das historische
Welt trägt: Zarathustra=Nietzsche.
Kolorit so glänzend meistert, will doch nicht vor allem die
Das Gedankenmäßige aber kann auch in anderer Art den
„Realien“ darstellen, die „Kunstaltertümer, Sitten, Feste,
Roman erfüllen. Wenn Enrica v. Handel oder Ricarda Huch
Trachten und was sonst von Wilhelm Hauff bis
den Geist einer Zeit vergegenwärtigen, so kann auch dies ohne
Georg Ebers das hauptsächliche Argument des Geschichts¬
Übermittlung von Gedanken und Gefühlen nicht geschehen, die
romans bildet: den Geist der Gegenreformation will sie lebendig
eben diesen Geist der Zeit ausmachen. In diesem Sinne sehen
machen, macht sie lebendig. Das ist die Hauptfigur und Maria
wir auch Polenz, Zahn, vor allem Freussen bemüht, den Geist
so gut wie Jesse, der Viertelsmeister von Steyr so gut wie die
der Zeit aus ihren Gestalten sprechen zu lassen. Einen histo¬
arme Margareth sind nur Symbole, nur Ausdrucksmittel. Diese
rischen Roman aus der Gegenwart, den historischen Roman der
atmosphärische Einheit hält die Charaktere zusammen und läßt
Gegenwart aber sucht in diesem Sinne Helene Böhlau (geb.
die Handlung wie ein Naturprodukt aus ihren Bedingungen
1859) zu schreiben. Auch sie, wie Ricarda Huch und ungleich
hervorgehen.
Clara Viebig, ist durch recht verschiedene Erscheinungsformen hin¬
Man sollte sich deshalb auch bedenken, ehe man die große
durchgegangen und ist doch im Wesen dieselbe geblieben
Künstlerin aus ihrer geistigen Heimat im 17. Jh. in das neun¬
Durchaus gehört ihre frühere Epoche der symbolisierenden
zehnte jagt. Hätte sie die Vorsicht geübt, ihren Romanen einen
Technik an: neben dem mit Recht berühmten „Rangierbahnhof“
Gesamttitel zu geben, etwa „Österreich im Zeitalter der Ferdi¬
(1895) schon der viel wenig bekannte geistreiche „Schöne
nande" (wie etwa Ompteda drei Adelsromane als „Deutscher
Valentin" (1902). Dann geht sie durch eine Zeit eigentlicher
Adel" um 1900 zusammengefaßt hat). — Niemand hätte etwas
Tendenzschriftstellerei mit ihrem von wilder Empörung über
gegen die Vollendung der Reihe eingewandt. Aber auch hier
die angebliche Knechtung der Ehefrau erfüllten Roman „Halb¬
muß dem Trieb zum Cyklus sein Recht werden. Manet malte
tier" (1889), der jene schnurgerade Erfindung nicht verleugnet,
die gleiche Landschaft in fünf, sechs verschiedenen Beleuchtungen
mit der alle Tendenzdichtung sich selbst zu strafen pflegt.
Enrica v. Handel den Geist der Gegenreformation unter
Und dann kam das milde „Haus zur Flamm" (1907),
dem Gesichtspunkt des Klosters, des Landadels, des städtischen
das in einem idyllischen Kreise alle guten Regungen
Bürgertums. Und neue Gesichtspunkte werden sich ihr er¬
unserer Zeit um ein Herdfeuer vereint, alles, was sie an Liebe
öffnen.
und Langmut und Weisheit zum Aufbau einer neueren besseren
Geht hier die Erfindung aus dem Geist der Geschichte hervor,
Welt aufruft. Doch bleibt es nicht, wie in den geistreich¬
so bleibt noch der weitere Schritt zu tun, daß sie hinter dem
barocken Halbromanen des bewußt antimodernen Gerhard
Geschehenen ganz zurücktritt. Wenn Dumas der Vater des
Ouckama Knoop (geb. 1861: „Sebald Sockers Pilgerfahrt
Macaulay spottisch sagte, er erhebe die Geschichte zum Rang
1903, „Sebald Sockers Vollendung", 1905, „Nadehda Badini
des Romans, so hat er mit diesem geistreichen Hohnwort doch
1906) beim Austausch sinniger Gedanken und witziger Wider¬
auf die grandiose Übung von Jahrhunderten hingewiesen. In¬
sprüche auch die Handlung oder, wie man doch sagen muß,
dem die mündliche Überlieferung der Völker aus den großen
die Handlungen des Buches entspringen jenem Geist und stellen
Erlebnissen der Stämme das Wesentliche heraushob, indem die
ihn dar. Daß aber dabei, wie bei Marie v. Ebner manch
psychologische Kunst und technische Verbindungsweise der Sänger
feines und gutes Wort fällt, wer wollte das schelten?
diese Auswahl weiter stilisierte, entstand einst was wir Helden¬
Helene Böhlau besitzt nicht die feurige Kraft, mit der der
sage nennen, und als deren höchste Blüte das Volksepos, die
Däne Johannes Jensen (wie einst bei uns Charles
„Ilias", die „Nibelungennot“. Ihre Monumentalität erreicht der
Sealsfield, der ausgewanderte Österreicher) das Hohelied der
moderne Einzelne nicht, aber auf diesen Wegen schritten doch
Neuen Welt singt und die aufregende Buntheit des amerikanischen
schon Große und blicken nach hohen Zielen; Selma Lagerlöf
Lebens in lauten Schicksalen an uns vorbeirollen läßt.
mit der Gösta Berlingssaga, Heidenstam - in weitem Abstand¬
Stiller, lyrischer ist die Atmosphäre ihrer Schriften; nicht um¬
mit den „Karolinen" und den „Schweden und ihren Häuptlingen",
sonst ist sie eine Tochter Alt=Weimars, von dessen klassischen Tagen
Auch an den verkleideten Geschichtsroman des Anatole France
die reizvollen „Ratsmädelgeschichten" (1888) und „Altweimarischen
Geschichten" (1897) erzählen. Sie rückt sogar schon nahe an
kann man erinnern und an die außerordentlich feinen Versuche
die Gefahr heran, der andere erliegen: eine bloß lyrische Stimmung,
Wilhelm Schäfers, alten Anekdoten epische Größe zu geben
von einiger leichten Handlung und viel Gefühlsäußerung um¬
(„Anekdoten" 1908; „Die Halsbandgeschichte" 1910).
rankt, zum „Helden" sie machen. Das glückte Hermann
Zeigen schon diese fremden Beispiele, mit wie zwingender Kraft
die Entwicklung sich vollzieht, so wird es an der dichterischen
Hesse (geb. 1877) einmal, in seinem liebenswürdigen „Peter
Evolution einer deutschen Dichterin noch heller klar. Wer
Camenzind“ (1904), einer Modernisierung gleichsam von Eichen¬
dorffs unvergeßlichem „Taugenichts; es ist dem Norweger
konnte individualistischer beginnen als Ricarda Huch (geb.
Hamsun einmal geglückt in „Pan“, während sein Nach¬
1864), die so durch und durch romantisch schien, die so anti¬
ahmer Bernhard Kellermann (geb. 1879 in Wassermanns
historisch in „Ludolf Urslen" (1892) selbst die grause Ham¬
Geburtsstadt Fürth, wie Knoop mit den beiden Mann aus
burger Cholera zu einem düster vorbeihuschenden Schattenspiel
Bremen gebürtig ist) in seinen zarten, aber allzuzarten Land¬
verflüchtigte? Wohl nähert sich die „Triumphgasse (1901) jenen
Stadtromanen der Schnitzler, Ertl, Bartsch; aber nicht Triest selbst
schaftsromanen („Yester und Li" 1904, „Ingeborg 1906) den
wird Träger der Handlung, nur symbolische Teile der Stadt.
Menschen ganz ins Elfen= oder Nixenhafte verflüchtigte.
Aber die beiden Bände des „Kampfes um Rom" (1906—1907
So liegt in der Entwicklung des modernen deutschen Romans
wie weit sind wir von dem Roman Felix Dahns, der
eine klare, starke Entwicklungslinie vor — allein schon eine
1878 unter dem gleichen Titel das Entzücken der
Bürgschaft kräftigen Gedeihens. Die Doktrinäre haben überall
deutschen Lesewelt bildete!) und erst recht das „Leben des Grafen
nur zu schelten; der eine warnt vor „Lyrismus", der andere
Confalonieri“ (1910) sind ganz eigentliche Versuche, ein histo¬
vor zu früher Sicherheit der Technik; dem ist die Wandelbar¬
risches Epos in Prosa zu schaffen, wie jene großen Unbekannten
keit des Dichters ein übles Zeichen, jenem seine Unveränderlich¬
ein solches in Versen schufen. Die Tatsachen, die die gelehrte
keit. Dem einen ist der Roman zu geistreich geworden und
und auch als Geschichtsschreiberin der deutschen Romantik wie
dem andern zu flach. Gewiß, Beispiele gibt es für all diese
des italienischen „Risorgimento" gefeierte Dichterin in sorglicher
Mängel. Daneben aber zeigt die deutsche Romandichtung
Arbeit festgestellt, gehen nun durch die anschauende Phantasie
unserer Tage nicht nur einen Reichtum von echten Talent.
sondern auch eine Fülle von gesunden Tendenzen, wie kein
Der Geist erblickt die Gestalten und sieht in ihr Inneres; er
andere Literatur der Welt sie jetzt aufweist,
wie wir selbst sie auf diesem Gebiet kaum je
saßen. Aber — noch mehr und noch größere Talente, und
stärkere und schönere Tendenzen nannte die Romantik ihr eigen