der „Armen Margaret 1910) den vreeder Beckermeister.
Und wenn sie in Sprache, Kostüm, Denkart des 17. Jahr¬
hunderts tiefer eintaucht als irgend der historische Roman nach
Manzoni getan, so scheint auch das lediglich als eine Vervoll¬
kommnung der Methode, die doch aber schon alle Nachfolger
Aber es liegt auch hier etwas
Walter Scotts befolgten.
anderes hinter dem Schein. Die Dichterin, die das historische
Kolorit so glänzend meistert, will doch nicht vor allem die
Realien“ darstellen, die „Kunstaltertümer, Sitten, Feste,
Trachten und was sonst von Wilhelm Hauff bis zu
Georg Ebers das hauptsächliche Argument des Geschichts¬
romans bildet: den Geist der Gegenreformation will sie lebendig
machen, macht sie lebendig. Das ist die Hauptfigur und Maria
so gut wie Jesse, der Viertelsmeister von Steyr so gut wie die
arme Margareth sind nur Symbole, nur Ausdrucksmittel. Diese
atmosphärische Einheit hält die Charaktere zusammen und läßt
die Handlung wie ein Naturprodukt aus ihren Bedingungen
hervorgehen.
Man sollte sich deshalb auch bedenken, ehe man die große
Künstlerin aus ihrer geistigen Heimat im 17. Jh. in das neun¬
zehnte jagt. Hätte sie die Vorsicht geübt, ihren Romanen einen
Gesamttitel zu geben, etwa „Österreich im Zeitalter der Ferdi¬
nande" (wie etwa Ompteda drei Adelsromane als „Deutscher
Adel" um 1900 zusammengefaßt hat). — Niemand hätte etwas
gegen die Vollendung der Reihe eingewandt. Aber auch hier
muß dem Trieb zum Cyklus sein Recht werden. Manet malte
die gleiche Landschaft in fünf, sechs verschiedenen Beleuchtungen
— Enrica v. Handel den Geist der Gegenreformation unter
dem Gesichtspunkt des Klosters, des Landadels, des städtischen
Bürgertums. Und neue Gesichtspunkte werden sich ihr er¬
öffnen.
Geht hier die Erfindung aus dem Geist der Geschichte hervor,
so bleibt noch der weitere Schritt zu tun, daß sie hinter dem
Geschehenen ganz zurücktritt. Wenn Dumas der Vater des
Macaulay spottisch sagte, er erhebe die Geschichte zum Rang
des Romans, so hat er mit diesem geistreichen Hohnwort doch
auf die grandiose Übung von Jahrhunderten hingewiesen. In¬
dem die mündliche Überlieferung der Völker aus den großen
Erlebnissen der Stämme das Wesentliche heraushob, indem die
psychologische Kunst und technische Verbindungsweise der Sänger
diese Auswahl weiter stilisierte, entstand einst was wir Helden¬
sage nennen, und als deren höchste Blüte das Volksepos, die
„Ilias", die „Nibelungennot“. Ihre Monumentalität erreicht der
moderne Einzelne nicht, aber auf diesen Wegen schritten doch
schon Große und blicken nach hohen Zielen; Selma Lagerlöf
mit der Gösta Berlingssaga, Heidenstam — in weitem Abstand¬
mit den „Karolinern“ und den „Schweden und ihren Häuptlingen“.
Auch an den verkleideten Geschichtsroman des Anatole France
kann man erinnern und an die außerordentlich seinen Versuche
Wilhelm Schäfers, alten Anekdoten epische Größe zu geben
(„Anekdoten" 1908; „Die Halsbandgeschichte" 1910).
Zeigen schon diese fremden Beispiele, mit wie zwingender Kraft
die Entwicklung sich vollzieht, so wird es an der dichterischen
Evolution einer deutschen Dichterin noch heller klar. Wer
konnte individualistischer beginnen als Ricarda Huch (geb.
1864), die so durch und durch romantisch schien, die so anti¬
historisch in „Ludolf Urslen" (1892) selbst die grause Ham¬
burger Cholera zu einem düster vorbeihuschenden Schattenspiel
verflüchtigte? Wohl nähert sich die „Triumphgasse (1901) jenen
Stadtromanen der Schnitzler, Ertl, Bartsch; aber nicht Triest selbst
wird Träger der Handlung, nur symbolische Teile der Stadt.
Aber die beiden Bände des „Kampfes um Rom" (1906—1907
— wie weit sind wir von dem Roman Felix Dahns, der
1878 unter dem gleichen Titel das Entzücken der
deutschen Lesewelt bildete!) und erst recht das Leben des Grafen
Confalonieri“ (1910) sind ganz eigentliche Versuche, ein histo¬
risches Epos in Prosa zu schaffen, wie jene großen Unbekannten
ein solches in Versen schufen. Die Tatsachen, die die gelehrte
und auch als Geschichtsschreiberin der deutschen Romantik wie
des italienischen „Risorgimento" gefeierte Dichterin in sorglicher
Arbeit festgestellt, gehen nun durch die anschauende Phantasie
Der Geist erblickt die Gestalten und sieht in ihr Inneres; er
har de un pre¬
gedient, auch hier vereint sich Modernstes mit Antik=Monu¬
mentalem; aber die Tiefe der Gedanken läßt nur gesteigerte
kein Ge¬
epische Ausdrucksmittel zu. Ein Epos ist dies
dankenroman, wie etwa Wilbrandt sie zu geben versuchte. Ein
Epos mit einem Riesen=Atlas als Helden, der die Last einer
Welt trägt: Zarathustra=Nietzsche.
Das Gedankenmäßige aber kann auch in anderer Art den
Roman erfüllen. Wenn Enrica v. Handel oder Ricarda Huch
den Geist einer Zeit vergegenwärtigen, so kann auch dies ohne
Übermittlung von Gedanken und Gefühlen nicht geschehen, die
eben diesen Geist der Zeit ausmachen. In diesem Sinne sehen
wir auch Polenz, Zahn, vor allem Freussen bemüht, den Geist
der Zeit aus ihren Gestalten sprechen zu lassen. Einen histo¬
rischen Roman aus der Gegenwart, den historischen Roman der
Gegenwart aber sucht in diesem Sinne Helene Böhlau (geb.
1859) zu schreiben. Auch sie, wie Ricarda Huch und ungleich
Clara Viebig, ist durch recht verschiedene Erscheinungsformen hin¬
durchgegangen und ist doch im Wesen dieselbe geblieben.
Durchaus gehört ihre frühere Epoche der symbolisierenden
Technik an: neben dem mit Recht berühmten „Rangierbahnhof
(1895) schon der viel wenig bekannte geistreiche „Schöne
Valentin" (1902). Dann geht sie durch eine Zeit eigentlicher
Tendenzschriftstellerei mit ihrem von wilder Empörung über
die angebliche Knechtung der Ehefrau erfüllten Roman „Halb¬
tier" (1889), der jene schnurgerade Erfindung nicht verleugnet,
mit der alle Tendenzdichtung sich selbst zu strafen pflegt.
Und dann kam das milde „Haus zur Flamm" (1907),
das in einem idyllischen Kreise alle guten Regungen
unserer Zeit um ein Herdfeuer vereint, alles, was sie an Liebe
und Langmut und Weisheit zum Aufbau einer neueren besseren
Welt aufruft. Doch bleibt es nicht, wie in den geistreich¬
barocken Halbromanen des bewußt antimodernen Gerhard
Ouckama Knoop (geb. 1861: „Sebald Sockers Pilgerfahrt
1903, „Sebald Sockers Vollendung", 1905, „Nadehda Badini
1906) beim Austausch sinniger Gedanken und witziger Wider¬
sprüche auch die Handlung oder, wie man doch sagen muß,
die Handlungen des Buches entspringen jenem Geist und stellen
ihn dar. Daß aber dabei, wie bei Marie v. Ebner manch
feines und gutes Wort fällt, wer wollte das schelten?
Helene Böhlau besitzt nicht die feurige Kraft, mit der der
Däne Johannes Jensen (wie einst bei uns Charles
Sealsfield, der ausgewanderte Österreicher) das Hohelied der
Neuen Welt singt und die aufregende Buntheit des amerikanischen
Lebens in lauten Schicksalen an uns vorbeirollen läßt.
Stiller, lyrischer ist die Atmosphäre ihrer Schriften; nicht um¬
sonst ist sie eine Tochter Alt=Weimars, von dessen klassischen Tagen
die reizvollen „Ratsmädelgeschichten" (1888) und „Altweimarischen
Geschichten" (1897) erzählen. Sie rückt sogar schon nahe an
die Gefahr heran, der andere erliegen: eine bloß lyrische Stimmung,
von einiger leichten Handlung und viel Gefühlsäußerung um¬
rankt, zum „Helden" sie machen. Das glückte Hermann
Hesse (geb. 1877) einmal, in seinem liebenswürdigen „Peter
Camenzind“ (1904), einer Modernisierung gleichsam von Eichen¬
dorffs unvergeßlichem „Taugenichts; es ist dem Norweger
Hamsun einmal geglückt in „Pan“, während sein Nach¬
ahmer Bernhard Kellermann (geb. 1879 in Wassermanns
Geburtsstadt Fürth, wie Knoop mit den beiden Mann aus
Bremen gebürtig ist) in seinen zarten, aber allzuzarten Land¬
schaftsromanen („Yester und Li" 1904, „Ingeborg 1906) den
Menschen ganz ins Elfen= oder Nixenhafte verflüchtigte.
So liegt in der Entwicklung des modernen deutschen Romans
eine klare, starke Entwicklungslinie vor — allein schon eine
Bürgschaft kräftigen Gedeihens. Die Doktrinäre haben überall
nur zu schelten; der eine warnt vor „Lyrismus", der andere
vor zu früher Sicherheit der Technik; dem ist die Wandelbar¬
keit des Dichters ein übles Zeichen, jenem seine Unveränderlich¬
keit. Dem einen ist der Roman zu geistreich geworden und
dem andern zu flach. Gewiß, Beispiele gibt es für all diese
Mängel. Daneben aber zeigt die deutsche Romandichtung
unserer Tage nicht nur einen Reichtum von echten Talente.
sondern auch eine Fülle von gesunden Tendenzen, wie keine
andere Literatur der Welt sie jetzt aufweist,
wie wir selbst sie auf diesem Gebiet kaum
saßen. Aber — noch mehr und noch größere Talente, und
stärkere und schönere Tendenzen nannte die Romantik ihr eigen
und hinterließ doch nicht ein abgerundetes größeres Meister¬
werk epischer Art. Wir dürfen auf die „Buddenbrooks" und
„Ludolf Ursleu“, auf „Hilligenlei", und „Jesse und Maria",
auf „Einsamkeit" und den „Rangierbahnhof“ wohl mit Stolz
zeigen. Und mehr noch dürfen wir uns freuen, daß diese und andere
große Begabungen, obschon sie sich unter kein dynastisches Joch
beugen und keinem Schulzwang gehorchen, unwillkürlich doch
einer großen Tendenz folgen, eine aufsteigende Bahn ver¬
folgen: den Weg, der aus dem oft mißbrauchten Roman endlich
wieder reine Kunst machen will — den Weg von der Er¬
zählung einer seelischen Entwicklung in irgendwelcher Form
zu der Epik und Prosa, die an Einzelnen die Schicksale eines
großen Volkes in bewegter Zeit darstellt und zugunsten der
großen Wirklichkeit auf alle Kleinkunft der Erfindung verzichtet!
Und wenn sie in Sprache, Kostüm, Denkart des 17. Jahr¬
hunderts tiefer eintaucht als irgend der historische Roman nach
Manzoni getan, so scheint auch das lediglich als eine Vervoll¬
kommnung der Methode, die doch aber schon alle Nachfolger
Aber es liegt auch hier etwas
Walter Scotts befolgten.
anderes hinter dem Schein. Die Dichterin, die das historische
Kolorit so glänzend meistert, will doch nicht vor allem die
Realien“ darstellen, die „Kunstaltertümer, Sitten, Feste,
Trachten und was sonst von Wilhelm Hauff bis zu
Georg Ebers das hauptsächliche Argument des Geschichts¬
romans bildet: den Geist der Gegenreformation will sie lebendig
machen, macht sie lebendig. Das ist die Hauptfigur und Maria
so gut wie Jesse, der Viertelsmeister von Steyr so gut wie die
arme Margareth sind nur Symbole, nur Ausdrucksmittel. Diese
atmosphärische Einheit hält die Charaktere zusammen und läßt
die Handlung wie ein Naturprodukt aus ihren Bedingungen
hervorgehen.
Man sollte sich deshalb auch bedenken, ehe man die große
Künstlerin aus ihrer geistigen Heimat im 17. Jh. in das neun¬
zehnte jagt. Hätte sie die Vorsicht geübt, ihren Romanen einen
Gesamttitel zu geben, etwa „Österreich im Zeitalter der Ferdi¬
nande" (wie etwa Ompteda drei Adelsromane als „Deutscher
Adel" um 1900 zusammengefaßt hat). — Niemand hätte etwas
gegen die Vollendung der Reihe eingewandt. Aber auch hier
muß dem Trieb zum Cyklus sein Recht werden. Manet malte
die gleiche Landschaft in fünf, sechs verschiedenen Beleuchtungen
— Enrica v. Handel den Geist der Gegenreformation unter
dem Gesichtspunkt des Klosters, des Landadels, des städtischen
Bürgertums. Und neue Gesichtspunkte werden sich ihr er¬
öffnen.
Geht hier die Erfindung aus dem Geist der Geschichte hervor,
so bleibt noch der weitere Schritt zu tun, daß sie hinter dem
Geschehenen ganz zurücktritt. Wenn Dumas der Vater des
Macaulay spottisch sagte, er erhebe die Geschichte zum Rang
des Romans, so hat er mit diesem geistreichen Hohnwort doch
auf die grandiose Übung von Jahrhunderten hingewiesen. In¬
dem die mündliche Überlieferung der Völker aus den großen
Erlebnissen der Stämme das Wesentliche heraushob, indem die
psychologische Kunst und technische Verbindungsweise der Sänger
diese Auswahl weiter stilisierte, entstand einst was wir Helden¬
sage nennen, und als deren höchste Blüte das Volksepos, die
„Ilias", die „Nibelungennot“. Ihre Monumentalität erreicht der
moderne Einzelne nicht, aber auf diesen Wegen schritten doch
schon Große und blicken nach hohen Zielen; Selma Lagerlöf
mit der Gösta Berlingssaga, Heidenstam — in weitem Abstand¬
mit den „Karolinern“ und den „Schweden und ihren Häuptlingen“.
Auch an den verkleideten Geschichtsroman des Anatole France
kann man erinnern und an die außerordentlich seinen Versuche
Wilhelm Schäfers, alten Anekdoten epische Größe zu geben
(„Anekdoten" 1908; „Die Halsbandgeschichte" 1910).
Zeigen schon diese fremden Beispiele, mit wie zwingender Kraft
die Entwicklung sich vollzieht, so wird es an der dichterischen
Evolution einer deutschen Dichterin noch heller klar. Wer
konnte individualistischer beginnen als Ricarda Huch (geb.
1864), die so durch und durch romantisch schien, die so anti¬
historisch in „Ludolf Urslen" (1892) selbst die grause Ham¬
burger Cholera zu einem düster vorbeihuschenden Schattenspiel
verflüchtigte? Wohl nähert sich die „Triumphgasse (1901) jenen
Stadtromanen der Schnitzler, Ertl, Bartsch; aber nicht Triest selbst
wird Träger der Handlung, nur symbolische Teile der Stadt.
Aber die beiden Bände des „Kampfes um Rom" (1906—1907
— wie weit sind wir von dem Roman Felix Dahns, der
1878 unter dem gleichen Titel das Entzücken der
deutschen Lesewelt bildete!) und erst recht das Leben des Grafen
Confalonieri“ (1910) sind ganz eigentliche Versuche, ein histo¬
risches Epos in Prosa zu schaffen, wie jene großen Unbekannten
ein solches in Versen schufen. Die Tatsachen, die die gelehrte
und auch als Geschichtsschreiberin der deutschen Romantik wie
des italienischen „Risorgimento" gefeierte Dichterin in sorglicher
Arbeit festgestellt, gehen nun durch die anschauende Phantasie
Der Geist erblickt die Gestalten und sieht in ihr Inneres; er
har de un pre¬
gedient, auch hier vereint sich Modernstes mit Antik=Monu¬
mentalem; aber die Tiefe der Gedanken läßt nur gesteigerte
kein Ge¬
epische Ausdrucksmittel zu. Ein Epos ist dies
dankenroman, wie etwa Wilbrandt sie zu geben versuchte. Ein
Epos mit einem Riesen=Atlas als Helden, der die Last einer
Welt trägt: Zarathustra=Nietzsche.
Das Gedankenmäßige aber kann auch in anderer Art den
Roman erfüllen. Wenn Enrica v. Handel oder Ricarda Huch
den Geist einer Zeit vergegenwärtigen, so kann auch dies ohne
Übermittlung von Gedanken und Gefühlen nicht geschehen, die
eben diesen Geist der Zeit ausmachen. In diesem Sinne sehen
wir auch Polenz, Zahn, vor allem Freussen bemüht, den Geist
der Zeit aus ihren Gestalten sprechen zu lassen. Einen histo¬
rischen Roman aus der Gegenwart, den historischen Roman der
Gegenwart aber sucht in diesem Sinne Helene Böhlau (geb.
1859) zu schreiben. Auch sie, wie Ricarda Huch und ungleich
Clara Viebig, ist durch recht verschiedene Erscheinungsformen hin¬
durchgegangen und ist doch im Wesen dieselbe geblieben.
Durchaus gehört ihre frühere Epoche der symbolisierenden
Technik an: neben dem mit Recht berühmten „Rangierbahnhof
(1895) schon der viel wenig bekannte geistreiche „Schöne
Valentin" (1902). Dann geht sie durch eine Zeit eigentlicher
Tendenzschriftstellerei mit ihrem von wilder Empörung über
die angebliche Knechtung der Ehefrau erfüllten Roman „Halb¬
tier" (1889), der jene schnurgerade Erfindung nicht verleugnet,
mit der alle Tendenzdichtung sich selbst zu strafen pflegt.
Und dann kam das milde „Haus zur Flamm" (1907),
das in einem idyllischen Kreise alle guten Regungen
unserer Zeit um ein Herdfeuer vereint, alles, was sie an Liebe
und Langmut und Weisheit zum Aufbau einer neueren besseren
Welt aufruft. Doch bleibt es nicht, wie in den geistreich¬
barocken Halbromanen des bewußt antimodernen Gerhard
Ouckama Knoop (geb. 1861: „Sebald Sockers Pilgerfahrt
1903, „Sebald Sockers Vollendung", 1905, „Nadehda Badini
1906) beim Austausch sinniger Gedanken und witziger Wider¬
sprüche auch die Handlung oder, wie man doch sagen muß,
die Handlungen des Buches entspringen jenem Geist und stellen
ihn dar. Daß aber dabei, wie bei Marie v. Ebner manch
feines und gutes Wort fällt, wer wollte das schelten?
Helene Böhlau besitzt nicht die feurige Kraft, mit der der
Däne Johannes Jensen (wie einst bei uns Charles
Sealsfield, der ausgewanderte Österreicher) das Hohelied der
Neuen Welt singt und die aufregende Buntheit des amerikanischen
Lebens in lauten Schicksalen an uns vorbeirollen läßt.
Stiller, lyrischer ist die Atmosphäre ihrer Schriften; nicht um¬
sonst ist sie eine Tochter Alt=Weimars, von dessen klassischen Tagen
die reizvollen „Ratsmädelgeschichten" (1888) und „Altweimarischen
Geschichten" (1897) erzählen. Sie rückt sogar schon nahe an
die Gefahr heran, der andere erliegen: eine bloß lyrische Stimmung,
von einiger leichten Handlung und viel Gefühlsäußerung um¬
rankt, zum „Helden" sie machen. Das glückte Hermann
Hesse (geb. 1877) einmal, in seinem liebenswürdigen „Peter
Camenzind“ (1904), einer Modernisierung gleichsam von Eichen¬
dorffs unvergeßlichem „Taugenichts; es ist dem Norweger
Hamsun einmal geglückt in „Pan“, während sein Nach¬
ahmer Bernhard Kellermann (geb. 1879 in Wassermanns
Geburtsstadt Fürth, wie Knoop mit den beiden Mann aus
Bremen gebürtig ist) in seinen zarten, aber allzuzarten Land¬
schaftsromanen („Yester und Li" 1904, „Ingeborg 1906) den
Menschen ganz ins Elfen= oder Nixenhafte verflüchtigte.
So liegt in der Entwicklung des modernen deutschen Romans
eine klare, starke Entwicklungslinie vor — allein schon eine
Bürgschaft kräftigen Gedeihens. Die Doktrinäre haben überall
nur zu schelten; der eine warnt vor „Lyrismus", der andere
vor zu früher Sicherheit der Technik; dem ist die Wandelbar¬
keit des Dichters ein übles Zeichen, jenem seine Unveränderlich¬
keit. Dem einen ist der Roman zu geistreich geworden und
dem andern zu flach. Gewiß, Beispiele gibt es für all diese
Mängel. Daneben aber zeigt die deutsche Romandichtung
unserer Tage nicht nur einen Reichtum von echten Talente.
sondern auch eine Fülle von gesunden Tendenzen, wie keine
andere Literatur der Welt sie jetzt aufweist,
wie wir selbst sie auf diesem Gebiet kaum
saßen. Aber — noch mehr und noch größere Talente, und
stärkere und schönere Tendenzen nannte die Romantik ihr eigen
und hinterließ doch nicht ein abgerundetes größeres Meister¬
werk epischer Art. Wir dürfen auf die „Buddenbrooks" und
„Ludolf Ursleu“, auf „Hilligenlei", und „Jesse und Maria",
auf „Einsamkeit" und den „Rangierbahnhof“ wohl mit Stolz
zeigen. Und mehr noch dürfen wir uns freuen, daß diese und andere
große Begabungen, obschon sie sich unter kein dynastisches Joch
beugen und keinem Schulzwang gehorchen, unwillkürlich doch
einer großen Tendenz folgen, eine aufsteigende Bahn ver¬
folgen: den Weg, der aus dem oft mißbrauchten Roman endlich
wieder reine Kunst machen will — den Weg von der Er¬
zählung einer seelischen Entwicklung in irgendwelcher Form
zu der Epik und Prosa, die an Einzelnen die Schicksale eines
großen Volkes in bewegter Zeit darstellt und zugunsten der
großen Wirklichkeit auf alle Kleinkunft der Erfindung verzichtet!