VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 168

13. Miscellaneous
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et
2. Jahr
Der Herr

Paula Müller. Von Hans Wantoch.

Die hat dieselbe sieghaft glückliche Art zu sein, wie Stelle Hohenfels vor Jahren,
und auch bei ihr ist die Gefahr der Vergeßlichkeit nicht fern, daß man in einem
gewissen Alter das liebe Mädel auch nicht mehr spielen kann. Heut aber scheint
sie noch zu sein, was sie nicht mehr ist; und der Naturzauber sitzt ihr in der Seele.
Ganz frisch und unverbraucht wie in dem jungen Blühen der Bäume, das sich
mit kecker Sicherheit gegen den herben Märzwind wehrt. Diese harte Kontur
ist der schönste Reiz ihres Spieles. So nah in der weichen, müden Umgebung
der Wienerlust die Verlockung lag, die Femme incomprise in nuce darzustellen,
sie hat sich dennoch niemals als süßes Mädel gegeben, wie man es in Wien so
liebt, seufzend sentimental und tränensüchtig. Freiich sitzt ihre Träne sehr locker, und hinter ihrem
Lachen und ihrem Übermut ist gleichsam stets ein heimliches Weinen. Man brauchte sie nur
wie manche Siebzehnjährige ein bißchen zu bitten, und sie könnte zu jeder Minute ein paar
Tränen lassen. Aber wie bei kleinen Siebzehnjährigen ist dieses Weinen kein Ausdruck einer
Wehmut, sondern mehr eine erfrischende Körperemotion, die gleich in die entgegengesetzte
Nervenbewegung des Lachens umschlagen kann. Man spürt sich so schön im Weinen. Heftige
Gemütserregungen haben für sie wie für diese Backfische etwas Erfrischendes. Sie empfindet
im Lachen und im Weinen nur eine lustvolle Entladung von eigenem Überschwang. Der gährt
und brodelt in ihr und will irgendwie heraus, naiv und unbekümmert. Für ihre Augen haben
alle Dinge noch den Glanz des Unberührten, sie weiß nicht, was Sitte in der Welt ist, und kennt
die Sünde nicht. Sie kriecht aus Neugier auf den Heuboden und erleidet den tiefsten Schmerz
des Lebens, ohne des Lebens tiefste Lust erkannt zu haben. Der Spielmann in Schönherrs
„Königreich“ fängt sie ein wie der Rattensänger die Kinder in Hameln. Sie folg dem Lied; sein
Rhythmus lärmt in ihrem Blut; sie sinkt mit offenem Schoß in offene Männerarme; aber nur
Neugier ist in ihr, nur ein animalischer Antrieb der Natur, keine Lüsternheit, weil diesem Augen¬
blick kein Entbehren und Unterdrücken in der Vergangenheit vorausgegangen ist. Und der Herr
verzeiht, denn sie weiß nicht was sie tut.
Aus dem Unbewußten springen ihre Handlungen auf, ein naives Temperament ist die
Quelle ihrer unwillkürlichen Gestaltung. Das bestimmt ihr von selber in jedem Augenblick
Gebärde und Sprechtempo, Stimmlage und Haltung. Ein paar übermütige Nuancen genügen ihr,
einen besonderen Menschen aus dem Traditionsklische zu heben. Aber diese profilierenden
Ausdrucksmittel sind nicht Erzeugnis einer sinnvollen Überlegung, sie brechen als gottgeschaffene
Naturgebilde auf und sind gleichsam unwillkürliche Reflexbewegungen der Lust am Spiel. Dem
gibt sich diese Künstlerin mit unverbrauchter Komödiantenleidenschaft hin; sie ist ihm so ganz
verfallen, daß alles was sie tut und unterläßt, Ergebnis einer glücklichen Laune wird. Man
kann an ihr die suggestive Macht des Wortes beobachten, wie an manchen Sängern die sug¬
gestive Kraft der Töne, die aus ihrem willenlos hingegebenen Körper die frappierendsten Ge¬
bärden aufbrechen lassen. Solch ein willenloses unüberlegtes Instrument ist diese Spielerin
dem Wort. Niemals fühlt sie sich in freier Schöpferlaune der Dichtergestalt überlegen. Sie wird
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