VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 182

13. Miscellaneous
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Das „Wiener Krippelspiel 1919“ war diesem bejubelten Einakter vorange¬
gangen: ein paar dramatische Szenen aus bösester Weihnachtszeit — da nimmt
ein seltsamer Straßenbahnwagen die frierenden Holzsammler auf und bringt sie
an die Endstation alles Daseins, ins Reich des Lichtes und des Friedens. Dem folgt
das „Apostelspiel und als das erfolgreichste das „Nachfolge=Christi=Spiel“ von dem
sich christusgleich opfernden Erlöser der Menschen.
Woraus erklärt sich die gewaltige Wirkung dieser Spiele? Einmal daraus,
daß sie einem von den meisten modernen Bühnendichtern vernachlässigten meta¬
physischen Bedürfnis des Zuschauers Rechnung tragen. Das Irrationale, der Glanz
des Überirdischen verbunden mit seiner seltenen Schlichtheit und Volkstümlichkeit
erinnern freudig an die mittelalterlichen Spiele mit ihrer stark suggestiven Kraft.
Durch ihre überzeugende Wirkung unterscheiden sie sich also von anderen modernen
Versuchen, von den rein äußerlichen Mirakeldichtungen der Symbolisten wie von
den Bauernspielen Richard Billingers und Rose Mellers, die, Assoziationen an das
Heidnisch=Triebhafte hervorrufend, sich eher an die Intellektuellen wenden.
Zweitens aus der Treuherzigkeit, aus der shakespearehaften Mischung von
Erhabenem und Lächerlichem, von Ernstem und Heiterem — nirgends mangelt dem
Dichter der befreiende Humor! Drittens aber aus der zielstrebigen Tendenz: seine
Stücke sind in jeder Bedeutung des Wortes sozial: sie sind nicht Privatangelegen¬
heit des Dichters und eines kleinen Kreises, sondern sie haben jedem etwas zu sagen,
unabhängig von seiner Weltanschauung. Denn wo immer Mells Menschen auf der
Bühne nicht nur mit sich selbst, sondern miteinander ringen, haben wir ein soziales
Drama im weitesten Sinne — deshalb sind auch die „Sieben gegen Theben" nicht
nur ein antikes Familiendrama, sondern ein soziales Drama, weil ja unter den
Begriff auch alle sittlichen Probleme fallen, soferne sie nur soziale Konflikte er¬
zeugen. Mells Zielsetzung ist ebenso eudämonistisch wie die des Sozialismus: ob die
Liebe, der Appell an die Menschlichkeit, der sich sooft schon als vergeblich erwiesen
hat, oder der an den Egoismus die Lösung bringen wird — darüber läßt sich freilich
streiten
So hat Max Mell sehr lange vor der Forderung Alfred Döblins nach
„Niveausenkung“ das Richtige getan: das neue Laienspiel geschaffen, das Kollektiv¬
erlebnis sein will wie im griechischen Altertum oder im heutigen Sowjetrußland,
wo Schauspieler und Zuschauer eine einzige verzückte, durch die Idee verbundene
Masse sind. In dieser Absicht hat auch Mell altdeutsche Stücke der neuen Sprech¬
weise angepaßt, so hat er uns zum Beispiel mit der Bearbeitung von Hans Sachsens
Spiel von den ungleichen Kindern Evä ein soziales Spiel aus dem sechzehnten
Jahrhundert wiedergegeben
Aber Mell ist auch ein starker Erzähler, seine erwähnte herbe Novelle
von der einsamen, mit Boden und Vieh verwobenen Bäuerin ist bisher sein Meister¬
stück, doch sind auch die kleineren Sachen recht lesenswert, etwa die schalkhafte
Wienergeschichte „Der Tänzer von Sankt Stephan“ oder die in der beschaulichen
Weise an Stifter gemahnende „Malerlegende", endlich die tiefsinnigen kleinen Le¬
genden, von denen hier wenigstens die kürzeste („Was sich bei der Erschaffung der
Erde begeben hat"), mitgeteilt sei¬
„Zu Anfang, als noch nichts war als unendliches Gewässer, gedachte der Herr die
Erde zu erschaffen, und sprach zu seinem Engel: „Geh und bring mir Sand vom Grunde
des Meeres.“ Der Engel tauchte gehorsam in die Tiefe und holte den Sand. Aber die
Gewalt der Wasser war so groß, daß sie ihm, als er emportauchte seine Last aus den
Händen und Armen hinwegspülte. Als er dies wahrnahm, kehrte er sogleich um und ver¬
suchte es ein zweites Mal, aber er vermochte nicht zu widerstehen und verlor seine Beute
wiederum. Und nicht anders erging es ihm auch beim dritten Male, die Bedrängnis war zu
groß und seine Arme nicht stark genug, die Last emporzubringen. Er nahte sich beschämt
dem Herrn und zeigte ihm betrübt seine leeren Hände; nur unter seinen Fingernägeln hatte
er ein weniges vom Sand behalten. Da sprach der Herr: „Das genügt!
Nächst dem Dramatiker ist wohl am stärksten der Lyriker Mell in die
Öffentlichkeit gedrungen. In seinen Versen atmet die österreichische Landschaft, mit
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