VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 199

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Miscellaneous
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Nr. 8.
Die Gegenwart.
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Lest beispielsweise wieder einmal „Schnee" darauf hin. Nie
lichen Erscheinung im rothen Mantel, hingegeben. Das ist
hat ein Andrer ein so bis in die geringste Kleinigkeit ge¬
ihr heimlicher Roman, sie ahnt keinen Betrug. Da hört sie,
treues Bild von der damaligen Bildung der höheren Gesell¬
daß er verheirathet ist. Die kleine Tragödie steht auf ein
schaftskreise entworfen.
paar Seiten; aber sie ist so erzählt, daß sie in Deiner Er¬
Ich fordere die, die sich über seine Menschenschilderung
innerung zu etwas Großem wird.
beklagen, auf, das Buch vorzunehmen und sich darin umzu¬
Ich wollte, ihr besäßet Kiellands Werke. Sie sind sehr
sehen! Es sind Personen darin, die nur die Seite zeigen,
billig zu haben. Dann sollte Einer oder Andere von Euch
die Licht von den Verhältnissen erhält; aber das gilt weder
lernen, sie vorzulesen. Diese Kunst wird wenig bei uns ge¬
für den Pfarrer, noch für seine Frau; sie erhalten Licht von
pflegt. An unsern langen Winterabenden würde sie als
allen Seiten. Unvergeßlich als Denkmäler unsrer Cultur¬
gesellige Kunst allen andern vorangehen. Kiellands kürzere
geschichte stehen sie da. Wie aus früherer Zeit der Haupt¬
Erzählungen — beinahe jede ist ein kleines Meisterwerk, sind
mann in der „Familie auf Gilje" und der Commandeur in
sehr geeignet, die Kunst vorzulesen und die Kunst zuzuhören,
den „Töchtern des Commandeurs von Jonas Lie. Es sind
zu üben. Denn es gehört auch Uebung dazu ein guter und
Schilderungen in dem Buch
wie das Capitel über alte
williger Zuhörer zu werden.
und neue Musik; das Capitel, wo die junge, lebensvolle
Erinnert ihr Euch aus den „Arbeitern“ an das junge,
Dame den Verlobungsring abzieht und davongeht; oder das
hochgewachsene Bauernmädchen, das nach Christiania kam,
Anfangscapitel mit den Bauern, oder das Schlußcapitel, wo
und in das sich der Sohn des Staatsraths verliebte. Alexander
die beiden Alten im Bett liegen — ja lest es nur wieder
Kielland war für die Parthie. Ebenso als die Tochter des
einmal!
Legations=Secretärs den jungen Fischer, mit dem sie draußen am
Ich will auch auf einen bestimmten Mangel in diesem
Meer zusammen aufgewachsen war, haben wollte. Später über¬
köstlichen Buch und in mehreren seiner Bücher aufmerksam
redeten sie sie, einen Pastor zu nehmen. Sie arbeitete für ihn
machen. Er besteht darin, daß Kielland, wenn er den Kern
und sie gebar ihm Kinder; aber sie war nicht mehr sie selber.
der Sache berührt, die Personen bei Seite schiebt oder richtiger,
Da geschah es, daß sie wieder ans Meer, an den Spielplatz
sie zu zwei Zeitungen macht oder zu zwei Rednern, die sich be¬
ihrer Kinderzeit kam. Da erwachte sie, da sah sie sich um
kämpfen. Sich bekämpfen mit den besten Gründen der Zeit
nach ihrem eigenen Leben und nach ihm, dem Fischer. Auch
für und wider. Ich sagte zu ihm, warum thust Du das?
er hatte sein Theil durchgemacht, es hart empfunden, was
Es schadet dem Buch, wenn Du die Personen nicht in ihrer
geschehen war; denn jetzt hielt er sich verborgen. Aber sie
Art weitersprechen läßt. Da lachte er und sagte: „Das
fand ihn. Sie konnte nicht anders, sie ging hin zu ihm
ändere ich nicht! Es macht mir Spaß." Ich nehme an,
und lehnte ihren Kopf an sein dickes Islandwams und weinte
daß er wirklich so in Hitze gerieth, wenn er bis zu dem
sich aus. Das Wams roch nach Regenwetter und Fisch; aber
innersten Motiv des Kampfes herankam, daß er sich nicht
das that nichts, da gehörte sie hin. Und Alexander Kielland
Zeit nahm, was ihn bewegte in Fleisch und Blut umzusetzen.
war mit ihr einig.
Oder vielleicht that er es auch nur, um die Kritik zu reizen;
dazu hatte er eine starke Neigung.
In seinen Angriffen auf unsre alte Bildung (gegen die
wir jeden Tag des Jahres im Kampfe standen), ist ein
Motiv, das immer wiederkehrt, weil ihm sein gutes Herz
Brief an einen literarischen Anfänger.
keine Ruhe ließ es entsprach seiner Natur und seinem Wesen,
Einige Wahrheiten von Karl Bleibtreu (Berlin).
hier Entdeckungen zu machen. Es handelt sich um den Mangel

an Verantwortungsgefühl in der sogenannten guten Gesell¬
schaft. Nicht zwischen den einzelnen Klassen; das behandelte
Doch trotz alledem und alledem, welche Kluft zwischen
er für sich. Nein, es drehte sich um feinere Dinge: die
solch zerrissenem Stürmer und Dränger, der wie bei Aus¬
Verantwortungslosigkeit im Verkehr mit unbefestigten, arg¬
gießung des heiligen Geistes in fremden Zungen redete, als
losen Wesen, gegenüber Schwächeren und Fehlenden, gegen¬
sei er süßen Weines voll, und den glatten Faiseurs der
über Denen, die sich aus Liebe opfern, gegenüber Hilflosen
Berliner Salon= und Philistermoderne! Auch soll dem Un¬
und Dummen.
seligen, der wenig geliebt, aber viel gelitten, und dem de߬
Schon in Garman & Worse — wie fühlt er mit dem
halb jede Unwahrheit verziehen werden muß, nie vergessen
jungen Mädchen, das in die Stadt soll und Bildung lernen
werden, daß er als Opfer des Staats fiel, von einem ver¬
Sie wird von einer raffinirten Frau bei Seite gestoßen und
nagelten Literatur-Vernageler wegen „Gotteslästerung" (!)
als Deckmantel benutzt. Die Leute glauben, das junge Mädchen
hingestreckt. Denn daß Conradi an seiner Verurtheilung
habe ein Liebesverhältniß und dabei ist es die Frau selber.
im Leipziger „Realistenproceß zu Grunde ging, daran be¬
Und dann die kleine „Moosrose" Else! Woher kommt es,
steht kein Zweifel. Dieser Culturstaat mit seinen schmi߬
daß kein Werk jener Zeit mir so häufig in den Sinn kommt,
behafteten Corpsstudenten als späteren amtlich bestellten
wie dieses? Dieses anmuthige, zarte Kind, ohne Vater und
Zionswächtern für Ordnung, Orden und Sittlichkeit hat als
Mutter, so leicht und lustig, daß sie von einem Ende der Stadt
Moloch des Philisterthums schon so viele Autodafés gegen
an das andre geweht wird, ohne irgendwo Fuß zu fassen.
alle Gottsucher des Idealen veranstaltet, daß es auf Einen
Verkannt, mißhandelt, entblättert sie, verwelkt und geht ein.
mehr oder weniger nicht ankommt. Also Friede Deinem An¬
Dann das Fräulein im „Pfarrhof!“ Sie führt ein ein¬
denken, vergessener Kämpfer! Dein Strafkarma hast Du,
sames, ruhiges Leben mit ihrem Vater und ihren Blumen,
wie es scheint, nicht absitzen wollen, Dich vorzeitig selber
bis eine flotte Gesellschaft auf einem Sommerausflug
davongemacht, doch es wird Dir nicht übel angerechnet werden,
Thüren aufschlägt, und ein weltgewandter, junger Herr ihr
da Du Dein Dasein ohnehin nicht länger hättest behaupten
oben auf dem Blumenhügel einen Kuß raubt,
können. Ein Idealist von nicht gewöhnlichem Geistesver¬
erst einen,
dann noch einen, dann immer mehr. Ja, dann ist die Ge¬
mögen ohne das nöthige Kleingeld, kränkelnd ohne robuste
schichte aus. Die Gesellschaft reist ab. Aber Du stattet ihr
Arbeitskraft, für solche Ausnahmemenschen hat die sogenannte
nachher ab und zu einen Besuch in ihrer Einsamkeit ab, so
Culturgesellschaft nicht Raum. Irrsinnigen und Verbrechern
lange Du lebst.
gewährt sie stille Asyle, dem darbenden Poeten nicht mal
Und endlich „Karen!" Sie ist ein kleines Mädchen, das
Gefängnißkost.

Wer die Muse als Berufshausfrau irathen will, be¬
in einem Krug auf dem Lande in Dänemark aufwartet. Sie
hat sich dem vorbeifahrenden Postführer, einer schönen, männ¬
findet sich in keiner rosigen Lage. Warum distet es uns