VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 233

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es wird indirekt dem Denken eine höhere Macht als bisher eingeräumt,
da es dann die Fähigkeit hat, unter den „gegebenen Empfindungen
auszuwählen, was seinen eigenen Zwecken entspricht.
Kurz, Kant landet in Widersprüchen und Dualismus. Seine Ge¬
dankenentwicklung zeigt ihm überall ein Zweifaches, das sich nicht anders
löst, als indem er das eine dem andern mit Schärfe zu unterwerfen
versucht. Aber vergeblich; es bleibt ein Zwiespalt. Kant leugnet nicht
die Einheit der Welt, nicht die Einheit des Menschen, nicht die Einheit
des Denkens, nicht die Einheit des Handelns, aber er postuliert -
ziehungsweise beweist — einen inneren Widerspruch in diesen. Ein
Höheres und ein Niederes steckt darin; das Höhere ist aber immer das,
was sich nicht dem Denken, sondern der Intuition erschließt. So zerfällt
die Welt in die höhere Welt der Dinge-an-sich und in die niedere Welt
der Erscheinung. Das menschliche Geisteswesen in die höhere praktische
Vernunft und die niedere theoretische Vernunft; die theoretische Vernunft
wieder in die höhere Vernunft der Vernunftideen und die niedere des
bloßen Verstandes; und in der praktischen Vernunft siegt das freie „Ich
muß über das niedere, unfreie „Ich möchte", die moralische Selbst¬
überwindung über die niedere unmoralische Natürlichkeit. Trotzdem aber
verzichtet Kant nicht auf die Annahme einer All=Einheit. Aber da er
den anscheinenden Widerspruch von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von endlich
und unendlich, von frei und bedingt, kurz, die Zweiheit von Ich und
a priori ohne nähere Untersuchung ihres inneren Verhältnisses als „trans¬
zendentale Apperzeption" an die Spitze seines Systems gestelt hat, so
kann er nur in gelegentlichen Bemerkungen von der Möglichkeit und
Wahrscheinlichkeit einer höheren Einheit, in der sich alle Widersprüche
lösen, sprechen.
Marie Joachimi=Dege.
Hugo von Hofmannsthal, Artur Schnitzler, Karl
Schönherr.
Das prächtige Buch über Wien und die Wiener, aus dem wir heute einen
Abschnitt zitieren, wurde in der „Wage“ bereits angezeigt.") Es ist damals die
charakteristische und sympathische Art hervorgehoben worden, mit der der Autor, ein
geübter Kenner und seiner Beobachter der deutschen Kultur, von der Seele Wiens,
von der Geschichte und dem Aufbau der Stadt spricht, von der Rasse, dem Talent,
dem Charakter, den Wiener Frauen, kurz von allem, was der Kaiserstadt und ihren
Bewohnern spezifisch eigentümlich ist. Einen intimen Reiz verleiht dem Buch der
Umstand, daß der Verfasser, ein gebürtiger reichsdeutscher, der aber, wie vielen
bekannt, seit Jahren den kunstkritischen Schriftstellerberuf in Wien ausübt, seinen
Schilderungen die Briefform gab und eine Berliner Dame als Adressatin erwählte.
Dadurch erhält diese Studie einen pikanten Beigeschmack und — aus begreiflicher
Galanterie gegen die Empfängerin der vierzehn Briefe — das Gepräge, als ob hier
alles vom Cichtspunkte Berlins aus betrachtet worden sei. Dem Briefe „Vier
Repräsentanten" entnehmen wir bloß des Autors Ausführungen über die drei Wiener
typischen Literaten von Hofmannsthal, Schnitzler und Schönherr. Der in dem Briefe
D. R.
bezeichnete vierte Repräsentant ist Gustav Klimt.
*) Siehe „Die Wage“ Nr. 25, vom 20. Juni 1908, Bücherschau: „Wien,
Briefe an eine Freundin in Berlin.“ Von Franz Servaes. Leipzig, Klinkhardt
& Biermann.