VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 236

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Seine
Kenntnis der intimsten Eigenheiten der menschlichen Natur.
ungemein hoch entwickelte Psychologie wurzelt ganz in physiologischem
Begreifen. Er kennt alle Gebundenheiten des Menschen, hat ein starkes
Gefühl für dessen stete Hilfsbedürftigkeit und einen witternden Spur¬
sinn für das, was helfen kann: sei's auch durch das Mittel eines
unschuldigen Betruges.
So stoßen wir bei den Ursprüngen dieser Dichternatur auf ein
tiefes Mitleid. Aber dieses ist seltsam durchgeläutert und derart ver¬
geistigt, daß gleichsam ein kühler skeptischer Hauch davon ausgeht.
Und in den höchsten Schichten seines Bewußtseins hat dieser Dichter
sein Mitleid völlig überwunden. Da ist er klar durchsichtig und kalt
wie ein gletscherentsprungener Bergstrom. Da ist er nichts als feine,
ironische, ästhetisch gerührte Weltbetrachtung. Da ist er durch und
durch Artist und handhabt die Sprache mit köstlicher Meisterschaft wie
eine zarte Lanzette, mit der er die subtilsten Nervenfäserchen im orga¬
nischen Gewebe bloßlegt. Bis in diese ibsenhaft=kühle Höhe wird dem
Künstler wohl nicht jedermann folgen. Sie ist's jedoch, die ihm den
letzten künstlerischen Adel verleiht. Dort unten freilich, bei den Ur¬
sprüngen, ist's behaglicher, dort ist's molliger und wärmer. Dort
untenhin können alle kommen und staunen, die zur Kunst überhaupt
Zutritt begehren.
Noch einen zweiten Arzt will ich Ihnen nennen, damit sich durch
ihn das repräsentative Bild des heutigen Wiener Schrifttums für Sie
runde: den Dr. Karl Schönherr. Zwar ist er von Geburt ein Tiroler,
und man spürt's ihm gewaltig an, aber dennoch gehört er hierher,
da er in Wien Wurzel geschlagen hat und als Einziger die Tradition
Anzengrubers fortsetzt. Als Einziger und, wie mich dünkt, auch als
Ebenbürtiger — gerade weil er ein „Anderer“ ist. Er hat wohl nicht
den quellenden Reichtum Anzengrubers, nicht dessen farbenerfüllte
Naivität oder großes Herz. Die Zeiten sind überhaupt heutzutage
kühler geworden, und damit werden wir uns wohl abfinden müssen.
In zwei Punkten aber geht Schönherr über Anzengruber hinaus: er
ist noch bodenständiger und echter, realistischer und unerbittlicher; und
er hat ein bedeutend gesteigertes Verständnis für die Architektonik und
Okonomik des Dramas. Man spürt, daß Ibsen und die Wiedergeburt
Hebbels zwischen den beiden Dichtern liegen und daß Schönherr von
dieser Entwicklung der Zeiten profitiert hat. So gehört er ganz
unserer Epoche an.
Im Wiener Literaturgetriebe steht Karl Schönherr fast völlig
einsam da. Zu Schnitzler, Hofmannsthal und deren Kreis unterhält
er keine Beziehungen. Er ist von anderem Schrott und Korn als sie,
zu bärbeißig, zu ungeleckt, zu unbebauen. Wie der knorrige Stamm
eines germanischen Urwaldes steht Schönherr da unter seinen sensitiven,
gebügelten, kulturdurchtränkten Wiener Kollegen. Ich könnte mir denken,
daß er das Wort „Kultur“ von Herzensgrunde haßt und daß er den
Teufel danach fragt, ob er ihr diene. Doch solche Söhne sind nicht
die schlechtesten; mögen sie auch die unzärtlichsten sein. Die große
Mutter weiß es und wird sie in ihrer Weisheit schon zu nützen verstehen.
Schönherr sieht den Menschen in seiner ganzen Kleinheit und
die Natur in ihrer ganzen Größe. Fühlt man ihm den Puls, so wäre
man versucht, ihn einen Menschenverächter zu nennen. Doch weil des